SN.AT / Wochenende / Junge Seite

Warum wir uns angesichts von Krieg, Hunger und Einsamkeit machtlos fühlen - und was wir dagegen unternehmen können

Bei all den schlimmen Nachrichten fühlen wir uns machtlos und tun: nichts. Doch oft ist die einzige schlechte Tat jene, die man nie macht.

Würden wir uns nicht abgrenzen, wäre unser Leben ziemlich grau. Aber bist du wirklich so machtlos, wie du dich fühlst?
Würden wir uns nicht abgrenzen, wäre unser Leben ziemlich grau. Aber bist du wirklich so machtlos, wie du dich fühlst?

Du kannst niemals alles machen. Du kannst dir unmöglich jedes Lied, das je geschrieben wurde, anhören, jeden Film, der je gedreht wurde, ansehen, jedes einzelne Buch lesen und an jeden Ort reisen. Du kannst nie alles studieren, alle Menschen kennenlernen und sämtliche Gedichte dieser Welt auswendig lernen.

Du kannst niemals alle Menschen retten, jeden Krieg beenden, jedes einzelne der hungernden Kinder füttern und alle Straßenhunde bei dir aufnehmen. Du kannst nicht mit allen einsamen Seelen eine Tasse Tee trinken und ihnen Hoffnung schenken.

Du kannst nie alle Krankheiten heilen, auf jede Demonstration gehen und dafür sorgen, dass sich niemand mehr allein in den Schlaf weint. Absolut undenkbar, dass du alle Politiker der Welt zur Vernunft bringst, den Waisenkindern Familien schenkst und den Klimawandel stoppst. Genau deswegen machst du: nichts.

Doch wie kannst du ein Buch lesen, wenn nach jedem Kapitel ein Femizid passiert, nach jeder Seite 40.000 Kilogramm Plastik im Meer landen und nach jedem Satz ein weiteres Kind verhungert? Wie ist es dir möglich, zu Liedern zu tanzen, wenn nach jedem Song 14 Fußballfelder an Regenwald zerstört werden? Wie schaffst du es, ein Gedicht zu genießen, an dessen Ende 300 weitere Familien ihre Liebsten verloren haben?

Die Antwort ist einfach: Du kannst das, weil du dich ohnehin machtlos fühlst. Weil du glaubst, niemals eigenhändig irgendetwas verändern zu können. Weil es dich nicht betrifft. Das ist normal. Du schützt dich durch Abgrenzung - und das ist nichts Verwerfliches. Würden wir uns nicht abgrenzen, wäre unser Leben ziemlich grau.

Aber bist du wirklich so machtlos, wie du dich fühlst?


Natürlich kannst du nicht alles machen. Doch mit jedem Buch, das du liest, streichst du eines von der Liste. Wahrscheinlich würdest du den Großteil der Bücher, die es gibt, sowieso nicht genießen, also warum nicht einfach dein Lieblingsbuch zum fünften Mal lesen? Weit mehr als die Hälfte der Lieder, die es gibt, würdest du dir sowieso nicht bis zum Ende anhören, weil sie so gar nicht deinen Musikgeschmack treffen. Also tanzt du in der Küche lieber zum hundertsten Mal zu dieser einen Melodie, die es vor Jahren zu deinen Spotify-Favoriten geschafft hat und deren Text du schon in- und auswendig kannst.

Die Welt ist groß und deine Zeit, um sie zu entdecken, viel zu kurz. Und doch: Du öffnest nicht dein Leben lang kein Buch, weil du sie sowieso nie alle lesen könntest. Du hältst dir nicht bei jedem Lied die Ohren zu, weil es ja undenkbar wäre, sie dir alle anzuhören.

Also warum tust du nicht genau das bei all den Dingen, die dich täglich schwer ums Herz fühlen lassen? Bei den Angelegenheiten, die dir nicht allzu selten Gewissensbisse bereiten: Krieg, Hunger, Krankheit, Einsamkeit.

Warum traust du dich nicht, diese Bücher zu öffnen? Warum lauschst du solchen Melodien nicht? Natürlich kannst du nicht alle Kriege eigenhändig beenden, doch diese eine Petition, die du unterschreibst, schlägt möglicherweise Wellen, die niemand erwartet hätte. All die Hungernden wirst du nicht sättigen, doch dein Kleingeld, das du spendest, bedeutet für ein Kind vielleicht die erste warme Mahlzeit seit Wochen.

Die Kranken kannst du nicht heilen, doch vielleicht zaubert einem von ihnen ein Wort, ein Bild, ein Gedicht oder ein Lied von dir ein Lächeln ins Gesicht. Die ausgesetzten Hunde können nicht alle bei dir einziehen, doch diese eine Stunde in der Woche, in der du mit drei von ihnen, die im Tierheim noch sehnsüchtig auf ihre Familie warten, spazieren gehst, sind für sie die schönsten der Woche.

Deine Taten müssen nicht eigenhändig Kriege beenden oder all das Schlechte in der Welt zum Guten wenden. Jede Tat, die du tust, trägt zu etwas Größerem bei. Lass dich von der Größe einer Angelegenheit nicht einschüchtern und kämpf an gegen dieses Gefühl der Machtlosigkeit. Du bist nicht machtlos. Du bist Teil der Veränderung.

Fass Mut und schlag die Bücher dieser Welt auf. Spitz deine Ohren für ihre Lieder und lass dir ihre Gedichte auf der Zunge zergehen. So machst du sie Wort für Wort, Strophe für Strophe und Vers für Vers zu einem besseren Ort. Das einzige schlechte Buch ist jenes, das du nie gelesen hast. Die einzige schlechte Tat ist jene, die du nie tust.

Amelie Hotter ist 18 Jahre alt und besucht die HLW Elisabethinum in St. Johann im Pongau.