evor ich meinen elfjährigen Sohn David stoppen konnte, hatte er seiner fünfjährigen Schwester Una schon die verstörenden News vom letzten Freitag berichtet, die er eben im Radio gehört hatte: "Vor deinem Kindergarten ist ein Mann mit einer Maschinenpistole herumgelaufen und hat Leute totgeschossen - deshalb durftet ihr heute nicht draußen spielen."
An mehreren Tatorten in Santa Monica hatte ein schwer bewaffneter junger Mann um sich geschossen und fünf Menschen getötet. Der Amokläufer wurde schließlich am Santa Monica College - nicht weit entfernt vom Kindergarten unserer Tochter - von der Polizei erschossen.
"Stimmt das, Mama?", wollte Una wissen. Ich beschloss, dass es zu spät sei, die Tatsachen abzustreiten, und antwortete: "Es stimmt, aber euer Kindergarten war fest zugesperrt und niemand hätte euch etwas tun können." Das war eine Lüge. Denn obwohl am Tag des Amoklaufs alle Schulen und Kindergärten in Santa Monica auf "Lockdown" (also fest abgeriegelt) waren und man uns Eltern über E-Mail benachrichtigte, dass niemand Unbefugter den Kindergarten betreten könne, hatte eine der Kindergärtnerinnen vergessen abzuschließen.
Das hatte Konsequenzen für die Verantwortliche, denn ein "Lockdown" wird sehr ernst genommen und zwei Mal im Jahr realistisch trainiert. Spätestens seit dem Massaker in Newtown werden die Kinder in Kalifornien nicht nur auf eventuelle Feuer und Erdbeben vorbereitet, sondern auch auf das Verhalten bei einer Schießerei. In manchen Schulen, wie zum Beispiel im südkalifornischen Goose Creek, wurde dafür eine komplette Geschichte erfunden: Ein Amokläufer erschießt zwei Schüler und den Schuldirektor und schreit dabei: "Ich will meine Kinder sehen!" Dann fügt er noch ein lautes "Bang! Bang!" hinzu. Schließlich sollte der Ernstfall nur simuliert werden.
An der Schule meines Sohnes wurde der "Lockdown" auch geübt, auch wenn man auf das "Bang! Bang!" verzichtete. David ist seit den "Lockdown"-Drills von der Angst geplagt, im Ernstfall "draußen" zurückbleiben zu müssen. Denn anders als bei einem Feueralarm, wo alle Kinder das Schulgebäude verlassen, werden bei diesem Szenario die Klassentüren von innen verriegelt. Wer es nicht rechtzeitig in die Klasse schafft, muss tatsächlich draußen bleiben und ist dem Eindringling ausgeliefert. Als sich vor wenigen Wochen zwei bewaffnete Männer in Bel Air versteckten, wurde eine Schule für hochbegabte Kinder für zwei Stunden versperrt. Mason, der Sohn meiner Freundin Jill, besucht diese Schule. Und ihm passierte, was sich David immer wieder als Schreckensszenario vorstellt: Er war auf der Toilette und schaffte es nicht rechtzeitig zurück in seine Klasse. Zwei Stunden irrte er allein durch den verwaisten Campus. Als seine Mutter endlich die Schule betreten durfte, war ihr Sohn in Tränen aufgelöst. Niemand hatte ihm gesagt, warum alle anderen zwei Stunden lang verschwunden waren und alle Türen von innen verriegelt waren.
"Lockdowns" sind keine Lösung. Die einzig richtige Antwort auf Gewaltexzesse sind strenge Waffen- und Munitionsgesetze. Der Amokläufer in Santa Monica hatte 1300 Schuss bei sich . . .
