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Die Direktdemokratie als Laborratte

Es ist Unglaubliches passiert. Ab einer bestimmten Unterschriftenzahl verpflichtende Volksabstimmungen sind für Parlament und Parteien ein Machtverlust. Aber wie viele Unterschriften müssen es sein?

rotz Machtverlust durch verpflichtende Volksabstimmungen sind alle Parlamentsparteien dafür. Nur bei der Frage "Wie viele Unterschriften?" gibt es gewaltige Abweichungen.

Gründe sind a) die Erkenntnis, dass eine Verweigerungshaltung dem ohnehin schlechten Parteienimage noch abträglicher wäre, und b) der verlockende Gedanke einer Instrumentalisierung für Parteikampagnen. Bisher wurden zwölf von 35 Volksbegehren direkt von Parteien betrieben, obwohl diese sowieso Gesetzesanträge einbringen könnten. Mittelbar von einer Partei unterstützte Begehren kommen hinzu.

Es gibt also politisch eine Mehrheit für mehr Direktdemokratie, doch analytisch hat die Politikwissenschaft ein methodisches Problem:

Wie prognostizieren wir die Wahrscheinlichkeit von durch Parteien und Propagandamedien inszenierten Abstimmungen? Wie sehr ist umgekehrt zu erwarten, dass Nachfolger Richard Lugners aus Jux und Tollerei Volksabstimmungen auslösen? Das sind Schlüsselfragen, um weder zu viele noch zu wenige Unterschriften zu verlangen.

Brauchen wir wegen der Manipulationsgefahr Unterschriften mit Ausweisleistung im Gemeindeamt oder genügen Eintragungen im Internet? Führen Quoren als erforderliche Mindestbeteiligung dazu, dass das Ergebnis besser akzeptiert wird oder werden da Demobilisierung und Verweigerung der öffentlichen Debatte zur politischen Strategie? Es kann einfacher sein, eine 50-Prozent-Beteiligung zu verhindern, als für Mehrheiten zu werben.

Ein Physiker würde ins Labor gehen und in Tests herausfinden, wie viele parteifreie oder rotschwarzblauorangegrüne Laborratten sich an Abstimmungen beteiligen. In einer (Direkt-)Demokratie mit echten Menschen kann man Österreich nicht zur "Big Brother"-Zone erklären und Feldversuche mit Kamerabeobachtung starten.

Doch der Ländervergleich ist ebenso ungenügend. Die Zahl der Vergleichsfälle ist zu klein und die Partizipationskulturen sind zu unterschiedlich. Ja, in der Schweiz ist die Beteiligung mit im Durchschnitt 40 Prozent gering. Und ja, in Italien pflegte Silvio Berlusconi Volksbegehren und -abstimmungen nicht einmal zu ignorieren, weil dann die meisten zu Hause blieben. Das alles ist aber kaum statistisch übertragbar, also werden wir mit der Direktdemokratie experimentieren müssen. Diese ist trotzdem zu befürworten, doch ungesicherte Politexperimente verursachen auch Bauchweh.

Vielleicht findet deshalb selbst von Experten, die jahrelang mehr Direktdemokratie forderten, ein vorsichtiger Schwenk in Richtung Warnung vor den Gefahren statt. Nicht nur, weil es populärer ist, möglichst die Gegenmeinung zu den Parteien zu vertreten.