Die Europäische Union hatte in letzter Zeit mit vielen Krisen zu kämpfen. Wirtschafts- und Finanzkrise, Grexit, drohender Brexit (Englands Austrittsbestrebungen), zunehmender Nationalismus und vieles mehr. Doch die derzeitige Flüchtlingskrise ist vielleicht die gefährlichste aller Krisen, an der die EU durchaus scheitern könnte. Sie ist ein Prüfstein dafür, ob das Grundprinzip der EU, eine Solidargemeinschaft zu sein, weiterhin Gültigkeit hat.
Die Flüchtlingspolitik der EU ist seit Jahren ein Taktieren um den heißen Brei. Und keiner ist unschuldig. Zu lange hat man weggeschaut, sich nicht mit der Problematik auseinandergesetzt, keine Vorkehrungen für den Ernstfall getroffen, Verantwortung hin und her geschoben - man nehme nur die beschämende Diskussion der vergangenen Monate in Österreich. Nicht einmal die notwendigen Gelder für internationale Hilfsprogramme wurden zur Verfügung gestellt. So fehlen 2015 für die Betreuung der vier Millionen syrischen Flüchtlinge, die in den Lagern der Nachbarstaaten ausharren, noch immer vier Mrd. US-Dollar, das sind 63 Prozent der notwendigen Mittel.
Dublin III ist kein adäquates Instrument, um Flüchtlingsströmen, wie sie sich derzeit abspielen, gerecht zu werden. Die Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen können die Asylverfahren und die notwendige Versorgung sowie die nach der Genfer Flüchtlingskonvention geforderte soziale Mindestsicherung der Flüchtlinge nicht gewährleisten. Für solche Fälle sieht aber der EU-Vertrag (Art. 80) die Solidarität der anderen Mitgliedsstaaten zwingend vor. Ferner hat der Rat bereits 2012 den gemeinsamen Rahmen für die Solidarität gegenüber den Mitgliedsstaaten, deren Asylsystem aufgrund außerordentlicher Ereignisse überfordert ist, festgelegt.
Mitgliedsstaaten wie Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei, die glauben, nur eine "freiwillige" Solidarität der Mitgliedsstaaten akzeptieren zu müssen, irren. Und es ist ein frivoles Spiel, wenn Herr Orbán behauptet, er werde von der EU alleingelassen, und er gleichzeitig jede gemeinsame Lösung der Flüchtlingsproblematik sabotiert. Orbáns Vorgehen widerspricht dem EU-Vertrag und dem Völkerrecht. Solidarität ist in der EU nicht von Beliebigkeiten und dem Willen einiger Mitgliedsstaaten abhängig. Die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten ist schon in der Präambel des EU-Vertrages festgelegt, ebenso wie die Förderung der ärmeren Mitglieder durch die reicheren. Wer glaubt, Solidarität beruhe lediglich auf Freiwilligkeit, muss sich die Frage gefallen lassen, ob das auch im Falle der wirtschaftlichen Solidarität, die sich in Nettozahlungen und Nettotransfers zwischen den Mitgliedsstaaten widerspiegelt, gilt. Ungarn ist etwa jenes Land, das mit 4,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (fünf Mrd. Euro) die mit Abstand relativ höchsten Nettotransfers erhält, in Polen sind es zwölf Mrd. Euro oder drei Prozent des BIP. Und wie steht es in Zukunft mit der politischen Solidarität, wie in der Ukraine-Krise? Die hat wesentlich zur Sicherheit der Polen und Balten beigetragen, während die negativen Folgen der Sanktionen alle gemeinsam tragen. Wenn wir beginnen, das Prinzip der Solidarität infrage zu stellen, ist das der Anfang vom Ende der EU, mit unvorstellbaren Folgen, auch für die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Staaten. Werden Grundwerte der Gemeinschaft nicht eingehalten, bleibt das nicht ohne Konsequenzen.