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Von neuen und alten Mächten

Über Jahrhunderte glaubte sich Europa als Zentrum der Welt. Das war zumindest unser Geschichtsverständnis.

Marianne Kager

Die letzten Jahrzehnte haben uns gezeigt, wie schnell sich die Relationen von Macht und Größe sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Sinn verschieben können. Allein in den letzten 60 Jahren sind Jahrhunderte alte Kolonialreiche zerbrochen. Aber wir brauchen gar nicht so weit zurückgehen, es genügt schon die Rangfolge der Wirtschaftsmächte in den letzten 30 Jahren zu betrachten. 1980 lautete die Reihenfolge USA vor Japan und Deutschland; China hingegen lag auf Rang 11, Indien auf Rang 12, Brasilien auf Rang 16. Und heute: China ist nach den USA die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt, gefolgt von Japan und Deutschland, Brasilien liegt auf Rang 7, Indien auf Rang 10, Russland auf Rang 12.

Gemessen in Kaufkraftparitäten ist Chinas BIP bereits so groß wie das der gesamten Eurozone. China ist auch längst nicht mehr die Werkstätte für Billigwaren, mit denen die Weltmärkte überschwemmt werden. Mit einem Anteil an den Weltexportmärkten von fast 10 Prozent hat es mittlerweile schon den Exportweltmeister Deutschland übertroffen. Und es ist umgekehrt ein wichtiger Absatzmarkt für alle anderen Staaten. Deutschlands Exporte nach China haben sich allein in den letzen vier Jahren verdoppelt. Chinas wirtschaftliche Entwicklung in den letzten 30 Jahren ist einzigartig. Es hat eine doppelte Transformation hinter sich gebracht; jene von einer Agrarwirtschaft zu einer industriellen Gesellschaft und von der Planwirtschaft zu einer von einer Parteioligarchie gesteuerten "Marktwirtschaft". Im selben Zeitraum betrug die durchschnittliche BIP-Wachstumsrate 9,5 Prozent pro Jahr (wir in Europa haben gerade einmal zwischen 2 und 3 Prozent geschafft); das reale Pro-Kopf-Einkommen hat sich in China seit 1990 versechsfacht! Daher ist auch der kommende Parteitag der kommunistischen Partei nicht nur eine innerchinesische Angelegenheit, sondern die Strategie, die dort für die nächsten fünf bis zehn Jahre festgelegt wird, beeinflusst die gesamte Weltwirtschaft.

China ist aber auch das Land mit den größten Devisenreserven der Welt, und es ist eine Forschungsgroßmacht, an deren Universitäten und Labors alle internationalen Konzerne Milliarden von Forschungsmitteln investieren. Es bestimmt einerseits die Weltnachfrage nach Rohstoffen wie Öl, Kohle und Erze und ist andererseits der größte Anbieter von Gold und seltenen Erden, wichtigster Rohstoff für die Computerindustrie.

China ist zwar das herausragendste Beispiel geänderter geopolitischer Konstellationen, doch andere wie Indien, Brasilien oder Russland befinden sich ebenfalls in einem rasanten ökonomischen Aufholprozess.

Möglich wurde das durch die neuen Kommunikationstechnologien. Diese haben eine Vernetzung der Wirtschaftstreibenden und der Volkswirtschaften ermöglicht, die mit der traditionellen Verkehrsinfrastruktur (Schiene, Straße, Wasser) nicht möglich wäre. Das ist aber nicht das Ende der Fahnenstange. Hinter den genannten Ländern halten sich schon die "next 11" wie die Türkei, Mexiko, Südkorea, die Philippinen oder Nigeria zum großen Sprung bereit.

Und Europa? Europa muss endlich erkennen, dass es nur als integrierter Wirtschaftsraum seine Position verteidigen kann. Dafür bedarf es einer glaubhaften und solidarischen Politik.