Das Ableben von Nelson Mandela erinnert uns auf traurige Weise daran, dass die Entwicklung von Geschichte immer wieder angewiesen ist auf Einzelpersönlichkeiten, die zum geeigneten Zeitpunkt Entscheidendes tun. So erhält die Entwicklung eines Landes, einer Region oder gar eines ganzen Kontinents einen wichtigen Impuls, der oft über Jahrzehnte hinweg die Geschicke von Millionen Menschen entscheidet.
Der Südafrikaner Mandela zählt, so wie der Inder Mahatma Gandhi oder Aung San Suu Kyi in Burma, zu den umfassend positiven Erscheinungen. Ganz im Gegensatz zu anderen historischen Figuren, die uns über lange Zeit als die "Großen" vorgeführt wurden, deren Denkmäler in ganz Europa und in anderen Teilen der Welt herumstehen und die doch nichts anderes waren als herrschsüchtige Massenmörder - man denke nur an all die Feldherren von Alexander über Hannibal und Cäsar bis hin zu Napoleon Bonaparte. Dennoch haben sie alle immer noch ihre Anhänger und Verehrer. Ganz zu schweigen von den größten Ungeheuern des 20. Jahrhunderts, die manchen immer noch als Vorbilder gelten. Der eine wird von einer kleinen Schar von Ewiggestrigen verehrt, dem anderen baut man derzeit in Russland wieder neue Denkmäler.
Die positiven Weltbeweger wie Mandela, Aung San Suu Kyi und Gandhi ragen heraus, weil sie im entscheidenden Augenblick das Richtige getan haben. Sie haben ihr Leben unter großen Opfern in den Dienst einer großen Idee gestellt. Und sie haben in krisenhaften Situationen eine besondere Anstrengung unternommen, um Probleme von enormem Ausmaß zu bewältigen.
Ähnliche Persönlichkeiten gibt es immer wieder und auf unterschiedlichen Ebenen, sei es nun in Politik, Wissenschaft oder Forschung. Ihnen allen ist gemein, dass sie nicht das tun, was jeder von ihnen erwartet, sondern weit mehr. Sie haben entweder die Gunst der Stunde in einer besonderen politischen Konstellation genutzt oder waren bereit, mit unkonventionellen Mitteln neue Wege zu beschreiten.
Tragisch an derart bedeutenden Persönlichkeiten ist es freilich, wenn sie es nicht schaffen, ihr Erbe zu sichern. Mandela hat zwar Südafrika den Schrecken rassistischer Rache erspart, aber es ist ihm nicht gelungen, seine Einstellung der nächsten Politikergeneration einzupflanzen. Mahatma Gandhi hat den indischen Subkontinent friedlich aus dem kolonialen Joch befreit, seine Nachfolger aber verstrickten sich in einer Serie von Kriegen - und in einer Jahrzehnte dauernden Erbfeindschaft zwischen Indien und Pakistan.Absturz ins "normale Leben"Die Existenz solcher Persönlichkeiten erinnert uns aber auch schmerzlich daran, mit wie vielen verpassten Chancen die Welt sich herumplagen muss, weil andere politische Führer sich nicht zu ähnlichen Leistungen aufschwingen können, nicht einmal in einem viel kleineren Maßstab. Weil viele von ihnen nicht nur nicht bereit sind, sich über den Durchschnitt zu erheben, sondern nicht einmal die normale Leistung erbringen wollen. Zu oft bleibt Politik im Klein-Klein täglichen Hickhacks hängen, zu oft nimmt man persönliche Interessen oder Gruppeninteressen wichtiger als die Gesamtheit einer Gesellschaft.
Diese Erkenntnis tut dort besonders weh, wo man anfangs Anlass zu großer Hoffnung gesehen hatte. Die Präsidentschaftskandidatur Barack Obamas hat vor allem in Europa einen Rausch der Erwartungen ausgelöst. Nicht nur, weil nach dem intellektuell schwach übersetzten George W. Bush jeder Kandidat Besserung versprach, sondern auch wegen Obamas brillanter Rhetorik. Selbst das Nobelpreiskomitee ließ sich blenden und ist heute wohl ebenso enttäuscht wie viele andere. Obama erwies sich als Zögerer, der gerade das nicht tat, was ein Weltbeweger tun muss: Er nutzte keine einzige der Gelegenheiten, die sich ihm boten. Er ließ den Mut zum politischen Risiko vermissen und blieb zaudernd im Kurzpassspiel des Kongresses hängen.
Er hätte zum Beispiel die Gelegenheit beim Schopf packen können, die amerikanischen Geheimdienste zu domestizieren, als der NSA-Mitarbeiter Edward Snowden glaubte, er müsse mit dem Verrat von Geheimnissen die Welt zu einem besseren Ort machen. Obama hätte durchaus Besseres aus dieser Sache machen können, als Snowden den Russen zu überlassen. So wie übrigens Snowden sich als vorgeblicher Kämpfer für Anstand und Freiheit der Meinungsäußerung wohl einen anderen Beschützer hätte wählen können als ausgerechnet den Tyrannen und Unterdrücker der Meinungsfreiheit Wladimir Putin.
Doch auch Europa ist derzeit voll von Politikern, denen es vollständig an Visionen für eine künftige Entwicklung des Kontinents gebricht. Man arbeitet sich an der Reparatur von Problemen ab, die man aus verschiedenen Gründen selbst verschuldet hat, und man hat weder die Zeit noch den Willen und schon gar nicht den Mut, den Blick jenseits des Tellerrands zu heben.
Da kommt einem ein schrecklicher Verdacht: Braucht es womöglich eine noch viel tiefere Krise, einen Zustand der Not, um eine Persönlichkeit auf die Bühne zu rufen, die die Welt wieder ein Stück weiterbewegt?