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Leben mit Epilepsie: Anzeichen, Hilfe und gesellschaftliche Stigmatisierung

Angst und Zuckungen: Ein epileptischer Anfall kann sich über Minuten oder gar nur Sekunden ankündigen. Wie sich Epilepsie äußert und was Betroffenen hilft.

Veränderungen in der Sinneswahrnehmung und Bewusstseinsstörungen sind typische Symptome, die einen epileptischen Anfall ankündigen.
Veränderungen in der Sinneswahrnehmung und Bewusstseinsstörungen sind typische Symptome, die einen epileptischen Anfall ankündigen.

Gerade noch war alles normal. Man ging seines Wegs, die nächste Erledigung vor Augen. Doch dann setzen sie wieder ein. Eine Stimmung innerer Unruhe, als sei etwas nicht in Ordnung, und ein eigenartiges Gefühl, das aus dem Magen aufsteigt. Vielleicht hätte die Person diese Symptome gar nicht bemerkt oder ihnen zumindest keine allzu große Bedeutung zugeschrieben, wenn sie nicht wüsste - diese gerade noch eher beiläufigen Symptome werden innerhalb der nächsten Minuten dominanter werden. Denn sie sind Anzeichen für den nächsten epileptischen Anfall.

Epilepsie: Entladung der Nervenzellen mit verschiedensten Symptomen

Epilepsie ist eine chronische neurologische Erkrankung, bei der sich Nervenzellen in der Hirnrinde plötzlich und übermäßig entladen, was zu mannigfaltigen Symptomen führen kann. "Am bekanntesten und leider auch stigmatisiertesten sind dabei die Muskelzuckungen und Krämpfe, ebenso Bewusstseinsstörungen, Verwirrtheitszustände, Verhaltensveränderungen, Gefühle von Angst sowie ungewöhnliche Sinnesempfindungen, sodass beispielsweise plötzlich bestimmte Gerüche gerochen oder Bilder gesehen werden", beschreibt Ekaterina Pataraia, Neurologin an der Medizinischen Universität Wien und Leiterin der Epilepsieambulanz des AKH Wien.

Meist kündigen sich die Symptome nur Minuten bis Sekunden vorher an, erklärt sie weiter. Betroffenen bleibt also nicht viel Zeit, sich auf den Anfall vorzubereiten, beispielsweise sich an einen sicheren Ort hinzusetzen oder zu legen.

Erste Hilfe bei einem Epilepsieanfall

Kommt es zu einem Anfall, ist es daher entscheidend, dass die Personen im direkten Umfeld richtig reagieren, um der oder dem Betroffenen zu helfen. Dazu zählt, Ruhe zu bewahren, die Person vor Verletzungen zu schützen, gefährliche Gegenstände in der Umgebung, an denen sie sich beispielsweise stoßen könnte, zu entfernen und etwas Weiches wie eine Jacke unter den Kopf der Person zu geben. Auf keinen Fall sollte die Person festgehalten oder zu Boden gedrückt, ebenso wenig ein Gegenstand zwischen die Zähne geschoben werden. Nach dem Anfall, im Falle einer Bewusstlosigkeit, ist die stabile Seitenlage wichtig, um die Atemwege frei zu halten, ebenso sollte beengende Kleidung, beispielsweise ein Schal am Hals, gelockert und die Atmung der Person kontrolliert werden.

"Bei einem Anfall vor Verletzungen schützen"
Ekaterina Pataraia
Neurologin

50 Millionen Menschen weltweit sind von Epilepsie betroffen. In Österreich sind es etwa 65.000 bis 70.000. Für die Entstehung der Erkrankung kann es verschiedene Ursachen geben, erklärt Pataraia, "Epilepsie kann durch genetische Veränderungen entstehen, sie kann aber auch durch eine Veränderung in der Hirnrindenstruktur wie zum Beispiel kortikale Malformationen, Hippokampussklerose, Narben, die als Folge eines Schädel-Hirn-Traumas auftreten, entstehen; auch Hirntumore, Schlaganfälle, entzündliche Erkrankungen des Gehirns oder Stoffwechselerkrankungen können Anfälle auslösen. Bei einem guten Teil der Menschen mit Epilepsie lässt sich die Ursache nicht herausfinden." Bis zum zehnten Lebensjahr ist die Wahrscheinlichkeit höher zu erkranken, ab dem 65. steigt sie erneut.

Medikamentöse Behandlung bei Epilepsie

Zwei Drittel der Betroffenen sprechen auf eines der speziell bei Epilepsie verabreichten Medikamente an, wenn einmal das richtige in der richtigen Dosis gefunden ist, sagt Pataraia. In der Folge sei es wichtig, das Medikament stringent einzunehmen und es nicht ohne ärztliche Abklärung auszuschleichen oder abzusetzen - trotz der mitunter sehr belastenden Nebenwirkungen, zu denen Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit, Gedächtnisprobleme, psychische Nebenwirkungen, Zahnfleischwucherung, Hautausschläge oder als Langzeitfolge sogar Osteoporose zählen können. Bei einem Drittel der Betroffenen wirken die Medikamente nicht. "Es gibt in manchen Fällen die Möglichkeit einer Gehirnoperation in einem spezialisierten Epilepsiezentrum. Für eine solche wird vorab die individuelle Chance einer anschließenden Anfallsfreiheit berechnet."

Eine Odyssee der Suche nach der geeigneten Behandlung für ihren Sohn hat die Wienerin Valérie Thiele hinter sich. "Mit elf Monaten hat Nathanaël begonnen, regelmäßig Fieberkrämpfe zu haben. Das wurde damals neurologisch untersucht und es hieß, nur ein kleiner Prozentteil sei in dem Alter von Epilepsie betroffen." Untersuchungen wie ein Elektroenzephalogramm und eine Computertomografie zeigten keine Symptome einer Epilepsie. Als sich die Anfälle im Alter von drei Jahren stark mehrten und auch ohne Fieber kamen, war klar: Es handelt sich doch um Epilepsie. Bei der Suche nach dem richtigen Medikament begann ein Wettlauf um die Zeit - denn im Kindesalter bedeutet Epilepsie auch ein Risiko für Entwicklungsverzögerungen und bleibende Schäden. "Wir waren bei vielen Kinderneurologen, haben ein Medikament nach dem anderen ausprobiert", erzählt Thiele. Als Nathanaël sieben ist, bekommt er einen Vagusnervstimulator implantiert, der zwar hilft, die Anfälle zu mildern, jedoch nicht im notwendigen Maße.

"War ein Schock für mich"

Im Falle von Nathanaël wurde die richtige Medikation erst spät gefunden, nämlich als dieser zehn Jahre alt war. Der heute 24-Jährige erlitt durch seine Erkrankung, eine besonders schwere Form der Epilepsie, Entwicklungsverzögerungen, die nicht mehr aufgeholt wurden. "Er ist quasi im Kindesalter geblieben", beschreibt Thiele. "Als mir die Neurologin klipp und klar gesagt hat, dass sich mein Kind nicht mehr weiterentwickeln wird, war das ein Schock für mich. Man hat ein Kind, das aufblüht, immer mehr spricht, immer mehr geht. Und plötzlich baut es ab. Kennt einige Wörter nicht mehr, tut sich in der Feinmotorik wieder schwerer."

In der Betreuung ihres Sohns habe sie sich oftmals sehr alleingelassen gefühlt. "Ich habe als Alleinerzieherin Vollzeit gearbeitet, damit wir über die Runden kommen. Die Alimente haben nicht einmal ein Drittel der Miete abgedeckt", berichtet Thiele. Sie bringt ihren Sohn in einem privaten Kindergarten unter und informiert die Leitung über die Fieberkrämpfe, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht als epileptische Anfälle diagnostiziert sind. Als drei Wochen später klar wird, dass es sich um Epilepsie handelt, wird von der Leitung gefordert, dass Nathanaël den Kindergarten verlassen muss, erzählt Thiele weiter. "Ich saß im Büro am anderen Ende von Wien und habe von der Leitung den Anruf bekommen, mein Sohn habe wieder einen Anfall bekommen und ich müsse ihn jetzt sofort abholen und morgen brauchte ich nicht mehr zu kommen."

Leben mit einem Kind mit Epilepsie: "Fühlte mich oft vertrieben"

Ein Szenario, das sich öfter in unterschiedlichen Einrichtungen wiederholte. Immer wieder ist Nathanaëls Erkrankung die Begründung, weshalb er an Betreuungsangeboten für Kinder nicht teilnehmen darf. "Es gab häufig kein Verständnis für seine Erkrankung. Ich fühlte mich oft vertrieben." Auch heute, viele Jahre später, ist das noch immer ein Problem, bestätigt Pataraia, "nach wie vor werden Menschen mit Epilepsie nicht gut in der Gesellschaft aufgenommen. Es herrscht noch immer ein mangelndes Verständnis für die Erkrankung und Menschen mit Epilepsie haben häufig Angst, in der Öffentlichkeit einen Anfall zu haben und stigmatisiert zu werden." Thiele wünscht sich eine bessere Aufklärung über das Thema, "damit die Menschen wissen, wie man jemandem helfen kann, der gerade einen epileptischen Anfall erleidet"