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Mental Health auf Social Media: Zwischen Aufklärung und Selbstvermarktung

Influencern auf Social Media ist zu verdanken, dass nun mehr über psychische Gesundheit gesprochen wird. Das hat auch Schattenseiten. Was steckt hinter dem Mental-Health-Trend und wie bleibt man mental gesund?

Stark sein und den äußeren Stürmen standhalten: Resilient zu werden, lautet die große Herausforderung in einer komplexer werdenden Welt.
Stark sein und den äußeren Stürmen standhalten: Resilient zu werden, lautet die große Herausforderung in einer komplexer werdenden Welt.

So viel wie gegenwärtig wurde noch nie über die Gesundheit gesprochen und geschrieben. Allein auf TikTok und Instagram breiten täglich Tausende von Menschen ihre Lebensgeschichten vor Millionenpublikum aus. Sie werden dort gehört und mit ihrer Krankheit und ihren Befindlichkeiten ernst genommen, Gini eat World ist so eine. Die deutsche Influencerin nimmt seit Jahren ihre Follower in ihrem Leben mit Essstörungen mit, beschreibt die Höhen und Tiefen ihres Seins. Es sind oft Leiden, über die man in der Öffentlichkeit nicht wirklich reden will - wie etwa in Schulen, in denen Essstörungen vornehmlich von Schülerinnen nicht groß thematisiert werden, weil man Nachahmereffekte vermeiden möchte.

Die Soziologin Laura Wiesböck hat über diesen Trend des öffentlichen Redens über die eigene Befindlichkeit in den sozialen Medien ein Buch geschrieben, "Digitale Diagnosen". Es sei positiv, schreibt sie, wenn offen über psychische Erkrankungen gesprochen werde und eine Enttabuisierung stattfinde. Auf der anderen Seite kritisiert sie eine Kommerzialisierung von Mental Health, wenn es um Klicks oder Verkaufsangebote der Influencer geht. In dieser Öffentlichkeit würden die Grenzen zwischen echter Aufklärung und Marketing verschwimmen, das eigentliche Thema finde nur oberflächlich statt.

Die meisten Influencer sind medizinische Laien

Fakt ist: Mit dem Schlagwort "Mental Health" lässt sich Reichweite generieren. Auf TikTok hat der Hashtag "Self-diagnosis" 22 Millionen Aufrufe, ein recht häufig vorkommendes Thema ist ADHS. Dort ist die Hälfte der hundert beliebtesten Videos irreführend, die Mehrheit der Videos wurde von Personen ohne formalen medizinischen Abschluss gedreht. Kritisch sieht Laura Wiesböck dabei das bildschirmtaugliche "beautiful suffering", wenn also Influencer ihr vermeintliches Leid zur Schau stellen. Der Konsum von Social-Media-Inhalten löse bei den meisten Menschen soziale Vergleichsprozesse aus, konstatiert Wiesböck, und dafür haben Social Media genügend Kategorien. Allein für Mädchen wird unterschieden zwischen jenen Frauen, die ihr Leben im Griff haben ("That Girl"), Frauen, die schlagfertig und rebellisch sind ("Bad Girl"), Frauen, die sich auf Kosten anderer Frauen bei Männern anbiedern ("Pick Me Girl"), oder Frauen, die ihre Traurigkeit ästhetisch ansprechend inszenieren ("Sad Girl"). Inhalte von "Sad Girls" werden überdurchschnittlich oft angeklickt. Die Soziologin plädiert in ihrem Buch dafür, mehr Bemühungen in die Entwicklung einer kritischen Medienkompetenz zu stecken, um zwischen echter Aufklärung und Fehlinformation unterscheiden zu können.

Mentale Gesundheit richtig verstehen

Was aber versteht man unter mentaler Gesundheit und wann beginnt die psychische Störung? Alexandra Haller ist Psychotherapeutin und Mental-Health-Coach, sie erklärt: "Zunächst: Für psychische Störungen gibt es klare Definitionen, diese festzustellen, sollte man Experten überlassen." Vereinfacht könne man sagen, dass eine psychische Krankheit beginne, wenn Menschen ihre Gedanken und Gefühle nicht mehr im Griff haben. "Wir kippen in dem Moment, in dem das Prinzip der Selbstwirksamkeit nicht mehr greift. Auch wenn ich noch so versuche, mir selbst aus einer Situation zu helfen, funktioniert es nicht." Man ist in der Krankheit gefangen.

Weil psychische Störungen nicht selten mit körperlichen Symptomen einhergehen - etwa Herzrasen bei einer Panikattacke -, diese aber durch medizinische Messverfahren wie EKG oft nicht erklärbar sind, werden Betroffene häufig ohne klare Diagnose nach Hause geschickt. Die Folge: Die Negativspirale dreht sich weiter, das Gefühl der Hilflosigkeit wächst. Auch wenn der Wille da ist, sich selbst zu stabilisieren, greifen bewährte Strategien oft nicht mehr. Betroffene stecken fest, sowohl psychisch als auch körperlich.

Für psychische Störungen gibt es klare Definitionen.
Für psychische Störungen gibt es klare Definitionen.

Umso wichtiger ist es, frühzeitig anzusetzen. "Begrüßenswert sehe ich in dem Zusammenhang, dass man sich zunehmend mehr mit mentaler und emotionaler Gesundheit beschäftigt, um gar nicht erst krank zu werden. Und dass wir beginnen, eine Sprache für unsere Gefühlswelt zu entwickeln", sagt Haller.

Vom Schweigen ins Reden gekommen

Das war vor nicht allzu langer Zeit noch ganz anders. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs eine Generation heran, die in ein großes Schweigen sozialisiert wurde, mit dem Tenor: nicht über die Vergangenheit und schon gar nicht über Gefühle reden. Erst seit den 1960er-Jahren beschäftigt man sich in der Psychotherapie mit den Themen Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung, seit den 1980er-Jahren ist die Psychotherapie fester Bestandteil der medizinischen Versorgung. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich heute jeder Mensch vorurteilsfrei in die Hände eines Profis begeben würde. Dennoch zeigt sich seit rund einem Jahrzehnt ein neuer Trend, auf seine psychische Gesundheit zu achten, noch bevor man in eine Krankheit kippt.

Mentale Gesundheit beginnt zunächst bei recht banal wirkenden Themen, dem gesunden Schlaf, ausreichender Bewegung und guter Ernährung. Und hier weiß man: Guter Schlaf ist essenziell für ein gesundes Leben. Lange war nicht bekannt, was in der Nacht geschieht, die Schlafforschung hat hier im wahrsten Sinne des Wortes Licht ins Dunkel gebracht. In der Nacht passiert sehr viel: Nervenzellen verschalten sich untereinander neu, das Gehirn wird von geschädigten Zellen, Proteinen und Stoffwechselprodukten gereinigt. Mit dem frisch gereinigten Gehirn werden in der Nacht die Tagesereignisse eingeordnet und die Gedächtnisbildung findet statt.

Die Chronobiologie erforscht den Tag-Nacht-Rhythmus. Der Körper funktioniert in Abhängigkeit vom Tageslicht, jede Körperzelle hat eine "eigene Uhr", die den Körper nach einem bestimmten Rhythmus arbeiten lässt. Früher, als die Menschen sozusagen mit den Hühnern ins Bett gingen und mit den ersten Sonnenstrahlen aufgestanden sind, waren die Hormonproduktion und die Tätigkeiten des Körpers im Gleichgewicht. Dieses natürliche Gefüge hat das künstliche Licht gestört, mehr noch das blaue Licht der in den Abendstunden verwendeten Smartphones, Tablets und Laptops, denn es signalisiert dem Körper: "Es ist Tag."

Lernen, Stress zu vermeiden

Die moderne Gesellschaft ist mehr denn je gestresst, wenn auch das Prinzip ein altes ist: Stress ist eine natürliche Reaktion, mit der Körper und Geist auf eine Bedrohung der physischen und psychischen Unversehrtheit von außen reagieren. Ähnlich wie beim Tier setzt Stress auch beim Menschen Prozesse im Organismus in Gang, es werden Stresshormone produziert, die den Körper auf Kampf und Flucht vorbereiten sollen, erklärt die Ärztin und Psychotherapeutin Doris Kraxner-Kogler. Wer sich hier öffnet statt verschließt, baut Stresshormone rascher ab, das innere Gleichgewicht wird schneller hergestellt. "Negative Gedanken sollten den Körper verlassen können, es gilt lediglich ein individuelles Ventil dafür zu finden", sagt Kraxner-Kogler. Sonst plagen Stresssymptome weiter, rauben uns den Schlaf, nehmen die Lust auf Sex und schwächen das Selbstwertgefühl. "In dieser Sogwirkung negativer Gedanken produziert der Körper weniger Serotonin oder Dopamin, und mit den Stresssymptomen rasselt auch die Stimmung in den Keller", sagt die Medizinerin. Ihr Ratschlag: einen Waldspaziergang unternehmen, der nachgewiesenermaßen positive Auswirkungen auf das Nervensystem hat. Doch auch schon eine Umarmung oder ein gutes Gespräch können Auslöser dafür sein, das Bindungshormon Oxytocin oder Dopamin zu produzieren - und so aus dem Stimmungstief zu kommen.

Wir überfordern unser Gehirn

Anstatt Zeit im Wald zu verbringen, scrollen wir jedoch auf unseren Smartphones und überfordern unser Gehirn. Die Psychotherapeutin Alexandra Haller sagt: "Vor 30 Jahren, als das Internet massentauglich wurde, hat es begonnen, für unser Gehirn komplex zu werden. Die Informationsdichte und die Geschwindigkeit, mit der es Reize verarbeiten muss, haben sich massiv erhöht. Die rasanten Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz verschärfen die Situation zusätzlich."

An der Verarbeitung digitaler Reize sind Hirnregionen beteiligt, die auch für das Belohnungssystem und das Suchtverhalten eine zentrale Rolle spielen. Wer kennt es nicht, das Gefühl der Unruhe, wenn man morgens das Smartphone zu Hause hat liegen lassen?

"Wenn Menschen in ihren Jobs keine Erfolge gezeigt werden, folgt oft die innere Kündigung."
Alexandra Haller
Psychotherapeutin

Nicht ausreichend erforscht sei, was das langfristig mit uns mache, sagt Haller. Eines jedoch ist sicher: So rasant sich unsere Gesellschaft technologisch weiterentwickelt hat, so langsam verläuft die evolutionäre Entwicklung unseres Gehirns.

Sicherheit und Bindung gehören zu unseren zentralen Grundbedürfnissen. Doch Krisen wie die Pandemie haben beides erschüttert, mit der Folge, dass viele Menschen versuchen, ihr Leben stärker zu kontrollieren. Dieses Streben nach Kontrolle erzeugt jedoch neuen Druck. Resilienz wird zur Schlüsselkompetenz: die Fähigkeit, innere Sicherheit und Stabilität auch unter widrigen Umständen zu bewahren. Doch der Alltag lässt oft wenig Raum dafür, man muss funktionieren. Schüler stehen trotz Erschöpfung früh auf, Arbeitnehmer erfüllen ihre Pflichten, auch wenn die eigenen Grenzen längst überschritten sind. Auf Dauer kann das krank machen.

Innerlich haben viele gekündigt

Das kostet die Allgemeinheit viel Geld. In jedem Unternehmen sitze eine erhebliche Zahl an Mitarbeitern, die bereits innerlich gekündigt hätten, sagt die Therapeutin Haller. Die Fachliteratur spricht von 15 bis 18 Prozent. Menschen sind zwar physisch anwesend, leisten aber kaum noch produktiv etwas. Oft liegt es an der Führung, die Erfolge nicht anerkennt und nicht in der Lage ist, Sinn zu vermitteln. Dabei ist Selbstwirksamkeit - das Gefühl, dass das eigene Handeln zählt - zentral für Zufriedenheit und Motivation. Doch in der zunehmend komplexen Arbeitswelt geht es vielen nur noch darum, den Job zu behalten und finanzielle Verpflichtungen zu erfüllen. Nicht zuletzt aus diesem Grund boomen Coachings. Dort ist Raum für Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung, für die Befindlichkeiten im Leben, die Schattierungen und Nuancen. "Auch wenn die Person mental gesund ist, kann ihr Anliegen eine Symptomatik entwickeln. Jeder Mensch hat seinen Rucksack voll mit Geschichten und traumatischen Erfahrungen", erklärt Alexandra Haller. Zum Vorschein kämen diese Erlebnisse oft unvermittelt in späteren Jahren und Situationen, mit denen man nicht rechne. Etwa wenn eine Person, die als Kind eine Leseschwäche hatte, dieses Thema aber in den Rucksack packte, als Erwachsener vor Publikum plötzlich keinen Ton herausbringt.

Das Thema müsste an Schulen gelehrt werden

Wer sich traue, seinen Rucksack zu öffnen und die alten Traumata aufzuarbeiten, sei im Vorteil, sagt Therapeutin Alexandra Haller. Nicht zuletzt, um daraus wachsen zu können. Sie ist sogar der Meinung, dass es dazu ein Schulfach "Selbstführungskompetenz" bräuchte. Dort sollten Übungen Platz finden, um sich selbst, seine Grenzen und Stärken besser kennenzulernen. Damit könne eine gute Basis geschaffen werden, um später einen Lebensstil zu finden, der ganzheitlich gesund halte, sagt Alexandra Haller. "Selbstführung heißt, ein Dasein zu entwickeln, in dem man authentisch leben kann und darf." Dazu gehöre auch der gesunde Umgang mit digitalen Medien. Haller: "Das ist auch deshalb wichtig, um nicht falschen Bildern nachzulaufen, wie wir auf Social Media gerade vielfach erleben."