Graz ist die heimliche Architekturhauptstadt Österreichs. Zwischen 1950 und 2000 entstanden eindrucksvolle Bauwerke von Architekturschaffenden der Grazer Schule. Viele davon sind vom Abriss bedroht, weil mehr auf die Formensprache denn auf die Qualität geschaut wurde. Der Grazer Architekt Hubert Rieß trat dazu in Gegenposition, statt Neubau wertschätzte er Bestehendes, baute und interpretierte es weiter. Mit dem britisch-schwedischen Kollegen Ralph Erskine schuf er die Wienerbergersiedlung im Osten von Graz. Die Wohnsiedlung aus den späten Achtzigerjahren wird gern als Best-Practice-Beispiel für innovatives Wohnen genannt. Die Architektin Theresa Reisenhofer von supertomorrow architecture zt erklärt bei einem Rundgang das Prinzip und erzählt, wie sie und ihre Mitstreiterinnen der Gruppe zkmb Architektur und Wohnen neu denken wollen.
Frau Reisenhofer, was ist für Sie das Schöne an dieser Architektur mit ihrem verstaubten Charme aus den späten Achtzigern? Theresa Reisenhofer: Schöne Architektur bedeutet für mich nicht vorrangig, "schöne Einzellösungen" zu bauen. Für mich ist gelungene Architektur ein Zusammenspiel, das die Umgebung, Stil und Zweck sowie die Menschen, die hier wohnen sollen, gleichermaßen berücksichtigt. Hier zum Beispiel wurde darauf geachtet, dass alle Faktoren Platz haben konnten. Das finde ich schön.
Aber verstehen wir unter Architektur gemeinhin nicht genau das, also schöne Häuser zu planen? Ich sehe die Rolle eines Architekten oder einer Architektin eher als die eines Koordinators beziehungsweise einer Koordinatorin, wir führen die Fäden zusammen in ein Konzept, das für Auftraggeber, Behörden und Nutzer passt. Was für mich die Wienerbergersiedlung so spannend macht, ist, dass in einem autofreien Areal die Räume gemeinschaftlich geplant wurden, auch wenn manche Gemeinschaftsräume heute nur als Fahrradabstellplätze genutzt werden. Bedürfnisse ändern sich nun einmal, die Siedlung "funktioniert" nach wie vor.
Wo steht - ironisch gesprochen - in diesem Zusammenhang der Stararchitekt im schwarzen Rolli und mit dicker Hornbrille? Die jüngere Generation zeigt sich von den Ikonen der Architektur relativ unbeeindruckt. In unseren Köpfen ist aber schon noch, dass Einzelobjekte wichtig sind, dass Architektur ausdrucksstark sein muss, im Kontrast zu etwas stehen muss. Auch davon wenden sich meine jüngeren Kolleginnen und Kollegen ab.
Als die Wienerbergersiedlung gebaut wurde, zogen hier vor allem Menschen aus Österreich ein. Die Wohnsituation hat sich heute geändert, in neu gebauten Siedlungen gilt es, auch die kulturellen Unterschiede mitzudenken, wenn viele Nationen Tür an Tür wohnen. Wie geht man hier vor? Wie damals in der Wienerbergersiedlung braucht es auch heute Angebote, wie gemeinschaftliches Wohnen möglich sein kann, Vereine oder Organisationen, die Bewohner animieren, gemeinsam ins Tun zu kommen, mit Kinderprogrammen, Kochkursen oder Bauernmärkten. Vielleicht muss das Miteinander wieder neu erlernt werden. Stimmige Architektur wie hier in der Siedlung, also eine gewisse Ästhetik oder Gestaltung, trägt auch zur Identität und zu einem Gemeinschaftsgefüge bei. Hier in der Siedlung hat man damals hinsichtlich Wohnzufriedenheit evaluiert, was ich extrem gut finde, auch als Erkenntnis für künftige Projekte, um bedarfsgerechter für Nutzer und Nutzerinnen zu planen.
Wo finden Sie gegenwärtiges Planen und Bauen schwierig? Wir sind sehr eingeschränkt in unserer Bauweise, de facto gibt es nur eine Bauweise - Ziegel, Beton mit Dämmung und Fenster aus PVC. Sie sind billiger, weil die Nachfrage größer ist. Das hat auch damit zu tun, dass gewisse Lobbys ihre Produkte verkaufen wollen und sich für entsprechende Gesetze oder Standards starkmachen. Ökologische Dämmungen oder Bauweisen fallen meist aus Kostengründen weg, hier gibt es kaum Handlungsspielraum. Experimentelles Bauen ist so gut wie nicht mehr möglich, also eine Planung von vielfältigen Räumen oder einem differenzierten Erscheinungsbild, wie es den Architekten Ralph Erskine und Hubert Rieß hier in der Siedlung gelungen ist.
Was wäre für Sie eine optimale Raumplanung? Eigentlich, wie es hier stattfindet, mit flexiblen Grundrissen, bei denen sich einzelne Räume integrieren oder wegnehmen lassen. Solche Lösungen findet man heute kaum, weil sie zu teuer sind, aber diese Flexibilität ist wichtig, um unnötige Abbruch- oder Umbauarbeiten in der Zukunft vermeiden zu können. Für meinen Geschmack müsste nichts mehr neu gebaut werden, wir sollten mehr umbauen oder im Bestand weiterbauen, und das gehörte stärker gefördert. Bis in die 2000er-Jahre wurde in der Steiermark die Schaffung von Wohnraum durch Baugruppen gefördert, gemeinschaftliches Bauen wäre heute auch sinnvoll, vor allem, um der Zersiedelung entgegenzuwirken.
Wo könnte man beim Bauen sparen? Die vielen Regeln und Normen machen das Bauen teuer, und da hat jedes Bundesland seine eigenen Vorschriften. Auch bei manchen Energiestandards frage ich mich, ob sie notwendig wären. Barrierefreiheit versteht sich beispielsweise in der Steiermark so, dass jede neu gebaute Wohnung innerhalb einer bestimmten und recht kurzen Zeit behindertengerecht umgebaut werden muss. Das kostet Geld. Inklusives Bauen ist enorm wichtig, keine Frage. Benötigt jemand aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit eine barrierefreie Wohnung, soll sie zur Verfügung gestellt werden können. Hier könnte man aber auch nach der sozialen Gerechtigkeit fragen: Was, wenn eine Frau plötzlich Alleinerzieherin wird und sich die alte Wohnung nicht mehr leisten kann? Für sie ist in den Wohnbaugesetzen keine Unterstützung vorgesehen. Wir sollten mehr über Verhältnismäßigkeit sprechen.
Wie könnte man Bauen neu denken? In Deutschland wird nächstes Jahr voraussichtlich der Gebäudetyp E umgesetzt, der gewisse Standards oder Normen festlegt, die insgesamt einfacher und günstiger sind und experimentelleres Bauen zulassen. Gerade im Genossenschaftsbau sähe ich mit so einer Regelung ein großes Potenzial zur Kosteneinsparung, bei gleichzeitigem Fokus auf die Nachhaltigkeit, denn durch den Gebäudetyp E könnte man auch über Materialzirkulation nachdenken, also auf Wiederverwertung kommen.
Was ist für Sie experimentelles Bauen? Es ist heute beispielsweise in der steirischen Wohnbauförderung kaum möglich, Holzbau und Massivbau zu mischen, also einem Ziegelhaus eine Holzfassade oder andere Dämmung vorzusetzen. Es gibt den hohen Standard des Holzbaus mit Holzfenstern und den niedrigen Standard der Massivbauweise mit PVC-Fenstern und "Plastikdämmung". Gebäudetyp E könnte vielleicht einen Spielraum schaffen, der beide Standards vereint und günstiger wird. Würde man sich hier etwas öffnen, wäre auch ästhetischeres Bauen besser möglich.
Sie sind Mitglied von zkmb, einer Gruppe von jungen Architekturschaffenden, die Architektur neu denken wollen. Wie genau? Wir fordern eine Bauwende, inklusive Planung, eine bessere Planungs- und Arbeitskultur, gemeinschaftliche Projekte und Austausch zum Zwecke eines besseren Bauens. Beim Bauen ist es wie beim Klimaschutz: Wir wissen, was zu tun wäre, man müsste nur Geld in die Hand nehmen. Und was heute billig ist, wird die nächste Generation mehr kosten, beispielsweise die Dämmplatten aus Styropor zu entsorgen. Ich wünsche mir Kostenwahrheit im Bausektor von der Erzeugung der Materialien bis hin zum Abbruch des Gebäudes. Wir müssen das alles berücksichtigen.
In der Versiegelungsdebatte wird viel über das Thema Verdichtung oder Bauen im Bestand gesprochen. Wo sehen Sie hier Potenzial? Zunächst bei den Kosten. Bauen im Bestand ist langfristig und gesamtheitlich betrachtet auch günstiger als ein Neubau. Eine Idee von zkmb ist, dass sich in den Bundesländern Wohnbaugenossenschaften nur mit Bauen im Bestand beschäftigen, das gibt es derzeit nur ganz selten. Wir Architektinnen und Architekten können mit baulich schwierigen Themen gut umgehen, dass man beispielsweise ein altes, erweiterungsfähiges Haus nicht wie ein neues denken darf. Ohne gute Planung kann "günstig" sehr teuer werden, weil es viele Variablen gibt, die Bauen im Bestand komplizierter machen. Ich denke, es bräuchte hier eine Agenda von verschiedenen Interessenvertretungen oder Beteiligten, von Politik, Bauwirtschaft, den Planerinnen und Planern, in der gemeinschaftliche Ziele festgelegt werden, wie zukunftsfähiges, nachhaltiges und sozialgerechtes Bauen aussehen sollte.
In Salzburg sind die Baugründe so teuer, dass selbst gemeinnützige Wohnbaugesellschaften sagen: Das geht sich finanziell nicht aus. Was wäre ein Weg aus dem Dilemma? Hier wird es vermutlich keinen anderen Ausweg geben als eine politische Einmischung. In Wien ist es bei vielen Bauprojekten so, dass der Grund der Stadt Wien gehört und ausschließlich diese entscheiden kann, wie oder was gebaut wird. Und dass Wiens leistbares Wohnmodell einzigartig ist, hat sich mittlerweile schon auf der ganzen Welt herumgesprochen. Man müsste vermutlich auch bei den Wohnbauförderungen ansetzen und diese zielführender verwenden. Ich finde gut, dass es in Städten wie Salzburg mittlerweile Leerstandserhebungen gibt. Bei den jüngsten Entwicklungen im Immobilienbereich - und hier hat jede Stadt ihre eigenen Probleme - kann man sich fragen, ob der freie Markt wirklich so gut funktioniert oder ob da nicht viele Menschen auf der Strecke bleiben.
Sie haben in Ihren jungen Jahren bereits bei knapp 60 Wettbewerben mitgemacht beziehungsweise teilgenommen und einige davon auch gewonnen. Welches Juryurteil freut Sie? Mich freut am meisten, wenn die Jury zum Schluss kommt, dass es sich um eine angemessene und stimmige Lösung handelt, die eine selbstverständliche Verbindung mit der Umgebung zeigt. Es ist mir auch wichtig, dass das Projekt zur Umgebung passt, dass die Grundrisse ansprechend sind und ich selbst dort wohnen möchte. Und dass es gemeinschaftlich genutzte Freibereiche gibt. Einfach, dass man dort gut leben kann.