Ein SN-Gespräch mit dem Arzt und Psychiater Joachim Bauer über Humanität und freundlicheren, versöhnlicheren öffentlichen Geist.
Sie sprechen in Ihrem jüngsten Buch "Das empathische Gen" vom langen Weg der Menschheit zur weltweiten Einlösung der Ziele der Aufklärung: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Auf welcher Strecke dieses langen Weges befinden wir uns? Joachim Bauer: Wir stehen noch am Anfang. Die Weltgeschichte der Menschheit ist gekennzeichnet durch eine Aneinanderreihung von Traumata: Naturkatastrophen, Ressourcenknappheit, Hungersnöte, Seuchen, Kriege. Den Naturgewalten, dem Hunger und den Krankheiten kann der Mensch seine Arbeit und seine technischen Potenziale entgegensetzen. Kriege sind aber keine Naturgewalten, für ihre Abschaffung gibt es keine technischen, sondern nur menschliche Lösungen.
Kriege lassen sich nur dadurch verhindern, dass wir die endlosen Ketten von Gewalt und Hass unterbrechen. Die meisten Täter waren früher selbst einmal Opfer, das gilt auch für Nationen. Wir müssen diesen Zusammenhang verstehen, uns miteinander verständigen und lernen, dass erlittenes Leid nicht dazu berechtigt, anderen selbst Leid zuzufügen.
Wie können wir gegen Hass und Krieg standhalten? Indem wir nicht aufhören, für die Ideale der Aufklärung zu werben: Für Freiheit, für gleiche Chancen für alle und Zusammenhalt. Dafür braucht es Bildung, also gute Schulen für alle Kinder. Und es braucht menschenwürdige Lebensbedingungen, weil bei Menschen, die sich Sorgen um ihr Überleben machen müssen, vor allem die Angst herrscht und nicht der Verstand. Soziale Ungleichheit, der Mangel an Bildung und die Verrohung einer Gesellschaft hängen eng zusammen. Das zeigt sich sowohl in Russland als auch in den USA.
Sie erwähnen in Ihren Büchern Menschen, die durch eine "Dark Triad of Personality" geprägt sind: Narzissmus, Störung der Empathiefähigkeit und Rücksichtslosigkeit. Wie kann man solche Menschen in die Schranken weisen? Durch Besonnenheit, durch klare Kommunikation gegenüber dem Täter, durch Einigkeit und Entschlossenheit und, falls nötig, auch durch Härte. Wenn der Täter nicht innehält, kann auch die Anwendung von Gewalt erforderlich sein. Der Anwendung von Gewalt muss jedoch Kommunikation vorausgehen, und sie muss angemessen sein. Ihr Ausmaß muss sich an dem orientieren, was zwingend notwendig ist, um den Täter zu stoppen.
Wie kann ein liberales, tolerantes und vielfältiges Europa mit rechtmäßigen Mitteln nach innen und nach außen verteidigt werden? Europa gehört zu den wenigen Orten der Erde, wo Regierungen sich zu moralischen und sozialen Standards bekennen. Europa muss sich nicht nur für den Fall rüsten, dass Russland eine aggressive Großmacht bleibt. Wenn Donald Trump wiedergewählt werden sollte, steht zu befürchten, dass die amerikanische Demokratie dauerhaft Schaden nimmt oder untergeht. Dann muss Europa auf eigenen Beinen stehen können.
Alle reden von Aufrüstung. Greift das nicht zu kurz? Auf Dauer schon. Die Leidenschaft, mit der sich einige Politiker und Medien derzeit für das Militärische begeistern und anderen unterstellen, sie seien nicht begeistert genug, finde ich etwas merkwürdig. Wichtig ist Besonnenheit. Militärische Verteidigung ist wichtig, aber kein Selbstzweck. Ihr Zweck ist die Bewahrung der Demokratie und des sozialen Rechtsstaates. Europa muss nicht nur nach außen geschützt werden, sondern auch nach innen: vor neuen Nationalismen, vor autoritären Tendenzen, vor Korruption und vor einem Abbau des Sozialstaates.
Wie kann die Bewahrung der Humanität, wie kann eine neue Aufklärung gelingen? Indem alle diejenigen, die an die Ideale der Aufklärung glauben, jetzt standhalten. Indem wir für diese Ideale immer wieder neu werben. Mit jeder neuen Generation müssen wir neu über den Sinn von Werten sprechen und darüber, was dem Leben Sinn gibt. Ein besonderes Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, was der in den sozialen Netzwerken verbreitete Hass mit Blick auf die Ideale der Aufklärung bedeutet. Helfen das Internet und die sozialen Medien, dass Menschen sich kraft ihres Verstandes eine vernünftige eigene Meinung bilden können, wie Immanuel Kant es forderte? Helfen sie uns, uns besonnen, vernünftig und fair zu verhalten? Oder begünstigen sie einen Rückfall in Dummheit, Falschinformation, Angst, Hass und Gewalt?
Was ist besonders dringend für gutes Zusammenleben? Toleranz, Freundlichkeit, sozialer Zusammenhalt und Skepsis gegenüber emotionsgeladenen Nachrichten. Die Medien verbreiten derzeit viel Grimm und Intoleranz. Eine ganz wichtige Rolle für gutes Zusammenleben haben die Bildungseinrichtungen, die jetzt eine Stärkung brauchen. Kinder brauchen nicht nur sich kümmernde Eltern, sondern auch Erzieherinnen, die ihre Kinder mögen, und Lehrkräfte, die beziehungsorientiert unterrichten. Kindergärten, Schulen und Universitäten haben unter der Pandemie sehr gelitten, das muss aufgeholt werden. Von großer Bedeutung für gutes Zusammenleben ist außerdem, dass kulturelle Veranstaltungen wieder in Gang kommen. Dazu gehören nicht nur Konzerte, sondern auch Tagungen wie die Goldegger Dialoge.
Und noch etwas: Wir brauchen einen freundlicheren, versöhnlicheren öffentlichen Geist. Es wäre gut, wenn man auf unseren Straßen öfters einmal in ein freundliches Gesicht blicken könnte, wenn ein kurzes Lächeln im Vorübergehen erwidert werden würde.
Joachim Bauer ist Arzt, Psychotherapeut und Autor viel beachteter Sachbücher wie "Das Gedächtnis des Körpers"; "Warum ich fühle was du fühlst"; "Prinzip Menschlichkeit", "Wie wir werden wer wir sind" (2018), "Fühlen was die Welt fühlt" (2020) und "Das empathische Gen" (2021). Bauer lehrt, forscht und praktiziert in Berlin. www.psychotherapie-prof-bauer.de.