Wer eine Auster schlürft oder eine Miesmuschel genießt, könnte Plastik mitessen. Ob das der Gesundheit schadet, können Wissenschafter noch nicht sagen. Das ist bisher nur wenig erforscht. Indes steht fest: Das Meeresgetier nimmt das Erdölprodukt Plastik mit seiner Nahrung auf, die es aus dem Wasser filtert. Längst finden sich überall in den Weltmeeren größere, kleine und kleinste Plastikpartikel, selbst in den entlegensten Winkeln. Und sie werden mehr. Die Verschmutzung des Ozeans wächst exponentiell.
Meeresforscher und Umweltschützer warnen vor einem Anstieg von Mikroplastik in den Ozeanen um das 50-Fache - und fordern ein internationales Plastikabkommen.
Das deutsche Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven hat im Auftrag des Umweltverbands WWF knapp 2600 Studien aus der ganzen Welt durchforstet. Nie zuvor ist der Stand des Wissens zu Plastikmüll im Meer derart zusammengetragen worden. Der Bericht liest sich wie ein SOS, ein Notsignal.
2600 Studien ausgewertet
Die Studie wurde rechtzeitig vor der Umweltversammlung der Vereinten Nationen veröffentlicht. Die UNEA findet vom 28. Februar bis zum 2. März in Kenias Hauptstadt Nairobi statt. Die 193 Mitgliedsstaaten sollen dort auf Initiative von Ruanda und Peru entscheiden, ob ein globales Abkommen gegen Meeresmüll auf den Weg gebracht wird - ähnlich dem Pariser Klimaabkommen mit Minderungszielen für Treibhausgasemissionen und nationalen Aktionsplänen.
Für die Wissenschafter des Helmholtz-Zentrums ist klar: Es gibt keine Alternative. Anzeichen, dass der Eintrag von Plastikmüll in die Meere in naher Zukunft einfach aufhört oder sich auch nur verlangsamt, gebe es kaum. Im Gegenteil.
Anstieg des Mikroplastiks bis Ende des Jahrhunderts enorm
Die Forschenden prägen einen neuen Begriff, sie warnen vor der "Plastifizierung" des Ozeans. Die entscheidenden Erkenntnisse im Einzelnen: Seit 2010 hat die Kunststoffindustrie 180 Milliarden Dollar in neue Fabriken investiert. Bis 2040 wird sich die Kunststoffproduktion voraussichtlich mehr als verdoppeln. Am Ende bleibt Müll, immer mehr Müll. Der Kunststoff wird zerrieben. Bis er ganz zersetzt ist, dauert es. Er zerfällt in Mikro- und Nanoteilchen. Bis Ende des Jahrhunderts, so rechnen Forscher vor, ist in den Ozeanen mit einem Anstieg des Mikroplastiks um das 50-Fache zu rechnen.
Dabei sind - zweite Erkenntnis - die Mengen schon jetzt gigantisch. Seit den 1950er-Jahren wird Plastik in großem Maßstab hergestellt. Die bis heute produzierte Menge wiegt laut den Experten alles in allem bereits das Doppelte des Gewichts aller Tiere auf der Erde. Reste werden allzu oft über die Flüsse ins Meer gespült, aber auch von wilden, offenen Deponien dorthin geweht. Das Gros: Einwegplastik. Es macht 60 bis 95 Prozent des Kunststoffs in den Meeren aus.
Jede Minute kommen zwei Lkw-Ladungen dazu
Auch die Fischerei hat ihren Anteil: Mindestens 22 Prozent des Plastiks im Meer gehen auf ihr Konto, weil alte Netze, Schnüre, Styroporkisten für immer im Wasser landen, auch Container über Bord gehen. Dazu kommen andere Quellen, etwa der Abrieb von Bremsen und Reifen.
Je nach Schätzung treiben so längst zwischen 86 und 150 Millionen Tonnen Plastik in den Ozeanen. Pro Jahr kommen etwa 19 bis 23 Millionen Tonnen hinzu - das sind jede Minute fast zwei Lkw-Ladungen. Sie finden sich allerorten wieder. Forscher fanden Reste eines Einkaufssackerls aus Plastik schon in 11.000 Metern Tiefe im Marianengraben. Ein Müllstrudel nordöstlich von Hawaii - er ist der größte von insgesamt fünf - ist vier Mal so groß wie Deutschland.
Plastikfolie bleibt auch in den durch die Klimakrise ohnehin schon gebeutelten Korallenriffen hängen wie in Bäumen an Land. Plastik belastet zudem Mangroven, die eine wichtige Kinderstube für Fische sind. Es sammelt sich an Mündungen von Flüssen.
Die Folgen
Das bleibt nicht - Erkenntnis Nummer drei - ohne Folgen. Die Bremerhavner Meeresbiologin Melanie Bergmann ist eine der Studienautoren. Sie zählt dokumentierte Fälle wie diese auf: Schildkröten verwechseln Kunststoffsäcke mit Quallen, von denen sie sich ernähren. Ein Wal, der an einer Küste Indonesiens tot angespült wurde, hatte sechs Kilogramm Plastik im Magen.
90 Prozent aller Seevögel verschlucken heute schon Plastik. Auch Fische bleiben nicht verschont: Im Labor hat sich gezeigt, dass sie weniger wachsen, wenn ihr Futter mit großen Mengen Mikroplastik belastet ist.
"Plastikmüll durchdringt das gesamte System des Ozeans", sagt WWF-Meeresexpertin Heike Vesper. In manchen Regionen seien längst kritische Schwellenwerte der Verschmutzung überschritten: im Meereis der Arktis, im Ostchinesischen und im Gelben Meer, auch im Mittelmeer.
Lässt sich das Plastik wieder herausfischen? Versuche dazu gibt es. Doch Vesper setzt wenig Hoffnung in sie. Einmal im Meer verteilt, lasse es sich "kaum zurückholen". Es sind einfach zu viele Mikro- und Nanoteilchen.
Was nun? Dort, wo ein Abfallentsorgungssystem fehle, müsse es jetzt aufgebaut werden, rät der WWF. Das sei vor allem in den armen Ländern der Fall. Aber auch in Europa gebe es einiges zu tun. 2019 zum Beispiel habe kein Land in Europa so viel Verpackungsmüll wie Deutschland verursacht - pro Kopf waren es 227,55 Kilogramm. Geschältes Obst im Plastikbecher zu kaufen, das müsse zum Beispiel nicht sein, meint Vesper. Am besten sei jener Plastikmüll, der gar nicht erst entstehe.