Anita Biebl wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, die über ihre Wangen laufen, während sie von Simon erzählt. Es tue ihr eh gut, über ihn zu reden und darüber, was damals passiert sei, als ihr Leben von einer Sekunde auf die andere völlig auf den Kopf gestellt wurde.
Als er am 3. November 2021 nach einem "Ciao Schatzi" am Vormittag gegen 11 Uhr das gemeinsame Zuhause, eine alte Mühle im bayerischen Anger, verließ, in sein Auto stieg, vermutlich zu schnell dran war, wie die Musikpädagogin sagt, die Kurve nicht erwischte und in einen Graben katapultiert wurde. Neun Tage lang lag er danach mit schweren Kopfverletzungen im Koma, ehe im Krankenhaus die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt wurden. Am 19. November 2021 wurde ihr Simon bestattet.
Im Jahr davor hatte der Lockdown die Hochzeit verhindert
Eigentlich hätten die beiden am Tag darauf, am 20. November 2021, endlich heiraten wollen. "Unsere Hochzeit hätte ja schon am 20. November 2020, also genau ein Jahr zuvor, stattfinden sollen. Aber da waren wir mitten im zweiten Corona-Lockdown und haben alles verschieben müssen, die standesamtliche Trauung im Schloss Mirabell und die Feier danach auf der Alm", erinnert sich Anita. "Wir haben stattdessen an dem Tag eine kleine Ringzeremonie mit ein paar Freunden gemacht, die wunderschön war." Auch ohne offiziellen Touch.
Anita Biebl stammt wie ihr Simon aus Bayern. Sie ist am Chiemsee mit zwei Brüdern aufgewachsen. Die Mutter betreibt eine kleine Pension, vor deren Haustür die Tochter von klein auf Gratiskonzerte gab. "Ich war immer schon sehr musikalisch, habe mich auf der Melodica ausgetrötet und an der Gitarre herumgezupft. Mit sechs Jahren habe ich Klavierspielen angefangen und ich weiß noch, dass meine Mutter sich immer gern zu mir gesetzt hat, um mir beim Spielen zuzuhören", erzählt sie.
Der Kinderwunsch war immer präsent
Die Musik wollte sie zu ihrem Beruf machen. Also absolvierte Anita Biebl in Altötting zunächst die Berufsfachschule für Musik. Danach schaffte sie die "sehr aufwendige Aufnahmeprüfung" für das Studium der elementaren Musik- und Tanzpädagogik am Orff-Institut an der Universität Mozarteum in Salzburg, das sie 2005 erfolgreich abschloss. Fortan arbeitete Anita jahrelang in Musikschulen rund um den Chiemsee. 2008 geht sie auf eine Weltreise, die sie "total bereichert und bestärkt", beendet eine langjährige Beziehung und ist danach lange Single.
"Dass ich eines Tages eine Familie haben würde mit mehreren Kindern, daran habe ich nie gezweifelt, so habe ich mich immer gesehen", sagt sie. Auch in der Beziehung mit Simon sei der Kinderwunsch von Anfang an präsent gewesen. "Für uns beide. Es hat halt nie sein sollen, wir hätten uns sehr darüber gefreut." Den Wunsch, Mutter zu werden, habe sie in ihrer Trauerarbeit zu visualisieren gelernt - als Luftballon, den sie loslassen kann, sagt sie.
"Er ist einfach nur einen Schritt voraus gegangen"
Auch ihr Simon sei in ihren Gedanken in einem Luftballon losgeschickt worden. "Ich bin heute im Frieden damit, dass er jetzt da ist, wo er ist, quasi einfach nur einen Schritt vorausgegangen ist." Auch wenn sie bis heute nicht vergessen könne, dass sie ihren Simon coronabedingt im Krankenhaus nicht besuchen durfte und auch beim Bestatter nicht mehr ihre Hand auf ihn legen durfte.
Wie sehr sie ihn heute vermisse? "Ich muss ihn nicht vermissen. Für mich ist er allgegenwärtig. Aber ich halte nicht mehr fest an ihm. Ich möchte auch wieder frei sein für eine neue Liebe." Die Trauer um ihren Verlobten sei "wie ein Vollzeitstudium, das ich mir nicht ausgesucht habe", für sie gewesen. "Zuerst bin ich mit ihm mitgestorben, habe mich daheim verkrochen. Ich habe so viel über Trauerarbeit gelesen und meditiert."
"Jodeln ist Singen ohne Worte"
Ihre Liebe zur Musik habe ihr geholfen, sei ihr beim Abschiednehmen von Simon ein Anker gewesen. "Mein Ursprung ist die Musik", schreibt sie auch auf ihrer Homepage www.anitabiebl.com, wo sie Jodelkurse anbietet. "Mit dem Jodeln bin ich im Studium erstmals in Berührung gekommen. Es bereitet Lebenslust, die sich durch die Stimme ausdrücken lässt. Jodeln ist Singen ohne Worte", sagt sie. Es habe ihr geholfen, sich vom Schmerz zu befreien und wieder lebendig zu fühlen. In Hof hat sie ein neues Zuhause gefunden, sie fühlt sich wohl. "Das ist mein neues Leben jetzt. Wer weiß, was noch kommt."
Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals im Juli 2023 auf SN.at.