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Roche-Chef Thomas Schinecker: "Alle 80 Tage verdoppelt sich das Medizinwissen"

Weil der Patentschutz meist nach gut zehn Jahren abläuft, ist der Innovationsdruck in der Pharmabranche extrem hoch, wie der Geschäftsführer von Roche erläutert.

Der Pharmabranche wird gerne unterstellt, primär auf ein gutes Geschäft aus zu sein. Warum aber die Generierung von hohen Umsätzen, die bei bestimmten Medikamenten oft nur wenige Jahre anhalten, für diese Unternehmen überlebenswichtig ist, erklärte Thomas Schinecker am Dienstagabend in Salzburg: Er war Hauptredner beim Industrie- und Zukunftsforum Salzburg im Hangar-7, das von Oberbank, Industriellenvereinigung und den "Salzburger Nachrichten" veranstaltet wurde.

Schinecker, der in Bayern und Singapur aufgewachsen und deutsch-österreichischer Doppelstaatsbürger ist, ist seit März 2023 Vorstandsvorsitzender der in Basel ansässigen Roche-Gruppe: Sie ist mit umgerechnet 65,6 Milliarden Euro Umsatz (2022) und weltweit mehr als 100.000 Mitarbeitern einer der größten Pharmakonzerne der Welt. Schinecker betonte, dass sein Unternehmen allein im Vorjahr rund 13,5 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert habe - was aber unumgänglich sei, denn: "Wenn unsere Patente auslaufen, kommen Generika und Biosimilare auf den Markt. Dann brechen diese Umsätze weg. Das sind jedes Jahr drei bis fünf Prozent, die wir ersetzen müssen, um weiter zu wachsen." Klar sei, dass der Patentschutz meist nur sieben bis zehn Jahre halte; diese Zeit müsse man nutzen, um die Forschungs- und Entwicklungskosten für das jeweilige Präparat zu verdienen, betonte Schinecker.

Denn: "Ein neues Medikament zu entwickeln dauert im Schnitt 13 Jahre. Und es kostet rund 4,4 Milliarden Euro", rechnete er vor. Zudem würden es nur etwa acht Prozent der Moleküle schaffen, dass aus ihnen Arzneimittel gefertigt werden. Laut seinen Zahlen läuft in den Jahren bis 2029 jedes Jahr im Schnitt bei über 20 wichtigen Medikamenten der Patentschutz ab. Der Gesamtverlust der Exklusivität für die jeweiligen Hersteller über die nächsten sieben Jahre belaufe sich so auf bis zu 200 Milliarden Euro, rechnete der Roche-Chef vor - meinte aber salopp: "Aber das ist gut so, weil es Raum schafft, in neue Medikamente zu investieren. Denn wenn man als Pharmaunternehmen nicht alle zehn bis zwölf Jahre sein Portfolio komplett erneuert, existiert man nicht mehr."

Schinecker, der studierter Molekularbiologe ist und seinen Bachelor in Genetik an der Uni Salzburg absolviert hat, wies zurück, dass die Medikamente an den steigenden Kosten der Gesundheitssysteme in Europa schuld seien: "In der Schweiz entstehen nur elf Prozent der Gesundheitskosten durch Medikamente. In Österreich ist es ähnlich."

Der 48-Jährige verwies in seinem Vortrag auch auf die generellen Forschungserfolge in der Genetik: Die erste Sequenzierung eines menschlichen Genoms habe von 1990 bis 2003 gedauert und 2,5 Milliarden Euro gekostet. Aktuell sei man hier bei Kosten von nur mehr rund 1000 Euro; und die Arbeit sei binnen 48 Stunden machbar. Schinecker sagte, dass - auch durch die Digitalisierung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz - die Verfügbarkeit von Daten und Informationen exponentiell gestiegen sei: Das führe dazu, "dass sich die Menge an medizinischem Wissen und Information etwa alle 80 Tage verdoppelt".

Der Vorteil sei aber, dass durch dieses Wissen auch maßgeschneiderte individuelle Diagnosen samt personalisierten Therapien möglich seien, betonte er - und nannte dafür drei Beispiele: Bei Lungenkrebs habe etwa das Medikament Alecensa das Risiko des Wiederauftretens der Krankheit oder des Todes um 76 Prozent reduziert - wenn der Tumor im frühen Stadium diagnostiziert werde. Auch bei Brustkrebs habe es Durchbrüche gegeben: Bei metastasierendem HER2+-Brustkrebs seien 37 Prozent der Patientinnen auch nach acht Jahren noch am Leben. "Vor zehn Jahren war das noch ein Todesurteil", sagte Schinecker. Als drittes Beispiel ging er auf die spinale Muskelatrophie ein: Diese seltene Muskelschwund-Krankheit führte beim Typ 1 früher bei drei von vier Kindern zum Tod vor dem zweiten Geburtstag. Nun würden durch ein von Roche entwickeltes Präparat die meisten Kinder auch nach dem sechsten Geburtstag noch leben.

In der anschließenden Diskussion mit SN-Chefredakteur Manfred Perterer bezeichnete es Schinecker als "eine alte Geschichte", dass neue Medikamente primär nur an weißen Männern in Europa oder den USA getestet würden: Die Pharmaindustrie würde bei klinischen Studien nun viel mehr auf Diversität setzen, sagte der Roche-Chef - und verwies auch auf gesetzliche Vorgaben: "Wenn wir heute ein Medikament in China zulassen wollen, müssen wir dazu auch eine Studie in China machen."

Auch die Frage, ob Roche für den aktuellen Medikamentenengpass in Österreich (knapp 600 Präparate sind nur schwer oder nicht lieferbar) mitverantwortlich sei, konterte er: Sein Unternehmen würde sowohl in Europa als auch in den USA und Asien produzieren. "Bei uns gibt es keine Lieferengpässe. Bei den Generika gibt es das aber, weil viele dieser Firmen wegen des Preisdrucks etwa nach Indien gehen." Was tut die Pharmabranche gegen den Eindruck, dass sie teils auch Kranke indirekt generieren würde, indem etwa Grenz- und Zielwerte bei Cholesterin oder Blutdruck nach oben oder unten revidiert würden? Auch das wies Schinecker von sich: "Wir verkaufen keine Globuli. Alle Studien werden unabhängig betrachtet. Wir haben keinen Einfluss darauf." Was verschrieben werde, liege an den Ärztinnen und Ärzten.


Die medizinische Forschung generiert jeden Tag extrem hohe zusätzliche Datenmengen.
Die medizinische Forschung generiert jeden Tag extrem hohe zusätzliche Datenmengen.
Der CEO von Roche, Thomas Schinecker, diskutierte am Dienstagabend im Hangar-7 mit SN-Chefredakteur Manfred Perterer.
Der CEO von Roche, Thomas Schinecker, diskutierte am Dienstagabend im Hangar-7 mit SN-Chefredakteur Manfred Perterer.