Wenn Michelle H. über ihren Beruf spricht, ist die Begeisterung nahezu greifbar: "Die Arbeit macht mir unheimlich viel Spaß. Ich wollte schon lange in die Pflege gehen." Seit November 2023 arbeitet die 24-Jährige als Pflegehilfskraft in einer Salzburger Einrichtung für betreutes Wohnen. Ebendort lässt sie sich seit Februar auch als Fachsozialbetreuerin ausbilden. "Vor allem die Möglichkeit, für andere da zu sein, gibt mir viel."
Wer die gebürtige Oberösterreicherin reden hört, käme nie auf die Idee, dass sie noch vor einem Jahr selbst auf die Hilfe anderer angewiesen war: Nach einem Suizidversuch lag sie im Koma, musste mehrfach operiert werden, war monatelang im Krankenhaus. Michelle H. leidet an der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des Borderlinetyps, landläufig als Borderline verknappt. Mit dieser Diagnose steht die Wahl-Salzburgerin beileibe nicht allein da: Repräsentative Daten für Österreich gibt es zwar keine, aber in internationalen Studien wurde hochgerechnet, dass ein bis drei Prozent der Bevölkerung betroffen sein sollen. Legt man diese Zahlen auf Österreich um, wären das 90.000 bis 270.000 Menschen.
Was überhaupt unter dem Begriff "Borderline" verstanden wird
"Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, bei der die Patienten an sehr intensiven Gefühlen leiden und diese nur schwer regulieren können", beschreibt Victor Blüml. Der Mediziner ist stellvertretender Ambulanzleiter der Uniklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie sowie stellvertretender Leiter der Spezialambulanz für Borderlinepatienten am AKH bzw. an der MedUni Wien. Eine Affektregulationsstörung sei ebenso charakteristisch für die Erkrankung wie sehr intensive, aber gleichzeitig stark brüchige Beziehungen und ein instabiles Selbstbild. Eine Borderlinediagnose werde aber nicht leichtfertig getroffen, ergänzt Blüml. Es gebe einen standardisierten Prozess, basierend auf neun zentralen Kriterien. Seien fünf dieser Kriterien erfüllt und das über einen längeren Zeitraum und in einem gewissen Ausmaß, werde die Erkrankung festgestellt.
Was in der Diagnose nüchterne Parameter sein müssen, sind für die Betroffenen lebensverändernde Einflüsse. Michelle H. beschreibt es plastisch: "An Borderline Erkrankte fühlen Emotionen bis zu neun Mal stärker. Wenn mir früher zum Beispiel jemand nicht sofort zurückgeschrieben hat, habe ich mir gedacht, der will mich nicht mehr in seinem Leben haben."
Was die Ursachen für Borderline sein können
Wie es zu derartigen Krankheitsbildern kommen kann, sei kaum zu pauschalieren, sagt Victor Blüml. Zum einen spiele eine gewisse genetische Veranlagung eine Rolle, wenngleich Studien belegten, dass nicht einzelne Gene verantwortlich seien. Zum anderen seien lebensweltliche Einflüsse krankheitsprägend. Blüml nennt exemplarisch "schwierige Kindheitserfahrungen im weitesten Sinne und traumatische Erlebnisse". Im Einzelfall könne aber alles oder nichts davon zutreffend sein.
Bei Michelle H. wurde die Diagnose kurz vor ihrem 19. Geburtstag gestellt. In jener Lebensphase hatte H. das erste Mal probiert, sich das Leben zu nehmen. Weitere Suizidversuche folgten: "Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Im Krankenhaus kannten sie mich auf unzähligen Stationen schon beim Vornamen." Doch die Wahl-Salzburgerin hat es geschafft, sich aus "der akuten Phase" zu kämpfen: "Ich bin jetzt stabiler, als ich es jemals war. Ich lebe mein Leben wie ein ,gesunder Mensch'." Geholfen habe ihr der Nachhall des dramatischen Erlebnisses vor einem Jahr, aber auch das noch währende Zusammenspiel ihrer Psychotherapeutin, der ambulanten Psychotherapie und der Unterstützung durch die Volkshilfe.
Welche Rolle die Angehörigen spielen
Auf das Zusammenspiel mehrerer Protagonisten verweist auch Maria Trigler, klinische Psychologin und Psychotherapeutin sowie Leiterin des psychologischen Dienstes (Erwachsenenbereich) am Kardinal-Schwarzenberg-Klinikum in Schwarzach. Es brauche einen trialogischen Ansatz - Patienten, Behandler und auch die Angehörigen müssten auf Augenhöhe eingebunden sein. Das Umfeld der Betroffenen etwa müsse gut informiert und beraten werden. Denn: "Auch Angehörige müssen Grenzen ziehen." Ihr konkreter Rat: Freunde, Partner, Verwandte sollten in stabilen Phasen mit dem oder der Betroffenen klären, was gebraucht werde - und was man selbst leisten könne. Dabei sollten unrealistische Versprechungen wie jene, "immer" da zu sein, ebenso vermieden werden wie wertende Aussagen.
Um diesem breiten Ansatz gerecht zu werden, setze man im Kardinal-Schwarzenberg-Klinikum auf eine sogenannte ausgebildete Genesungsbegleitung. Dabei handle es sich um "eine Selbstbetroffene, die nach umfangreicher Ausbildung ein Verbindungsglied zwischen Behandler und Patienten gibt", wie Trigler beschreibt. "Auch wir hören von den Betroffenen oft: ,Mein Problem versteht niemand, der es nicht selbst hatte' - und im Wesentlichen haben sie damit recht."