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Nicht nur nett, das Net: Über (fehlende) Manieren der virtuellen Bevölkerung

Knigge für manierliches Surfen. In den Online-Foren - von Gebrauchtwaren bis zu Singvogelfreunden - lässt das Benehmen oft zu wünschen übrig. Daran ist nicht nur die Anonymität schuld.

Viel hätte nicht gefehlt und die Benimmregeln wären schon früh sang- und klanglos einkassiert worden. Man schreibt das Jahr 1820 und der vatikanischen Indexkongregation liegt der Antrag vor, die Schriften eines gewissen Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr Knigge zu verbieten. Ein gefährlicher Aufklärer sei er, bei Zustimmung würde in der Folge die komplette Schrift "Über den Umgang mit Menschen" untersagt. Der zuständige Sekretär aber entscheidet sich gegen das Zensurverfahren und das 1788 erstmals erschienene Werk - "der Knigge" - darf weiter verbreitet werden.

Gut 200 Jahre nach der Kritik an Knigges Entwurf eines "Systems, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind", rüttelt das Internet kräftig an den Idealen des niedersächsischen Freiherrn. In Chatforen und sozialen Medien, auf Twitter, Facebook, Instagram oder TikTok wird nach Herzenslust gedroht, geschimpft, gelogen, gepöbelt und beleidigt. Im Schutz der Namenlosigkeit vergisst manch einer sich selbst und jegliche Kinderstube. Egal, ob Präsident oder Prolet: Der Ton ist nicht nur rauer geworden - er ist jenseits jeglicher Kontrolle.

Höflichkeit ist nämlich nicht angeboren. "Man muss lernen, dass man nicht allein auf der Welt ist", sagt Thomas Schäfer-Elmayer. Die Regeln in der internationalen Kommunikation unterscheiden sich zwar, im anglophonen Raum werde man rasch mit dem Vornamen angesprochen, aber ein wenig, so der Leiter der renommierten Wiener Tanzschule und österreichische Benimmexperte schlechthin, sollte man schon auf seinen Stil achten.

Was ihn jedoch mehr beunruhige, sei das Mobbing an Schulen. Das Unfreundliche und Negative, das in jedem von uns schlummere, in den Griff zu bekommen und nicht zu kultivieren, das sei eine unserer Lebensaufgaben. "Wenn wir in der Schule jemanden gehänselt oder geärgert haben, tut uns das im Nachhinein leid, auch weil man es dann nicht mehr rückgängig machen kann - und noch viel weniger geht das im Internet." Das Internet vergisst nichts. Auch keine Fake News, die ohne Kontrolle verbreitet und weitergegeben werden. Da, so Schäfer-Elmayer, lobe er sich den Qualitätsjournalismus, der Fakten vor der Veröffentlichung erst prüfe. Denn: "Der Ruf ist schnell ruiniert, und man kann sich schwer dagegen wehren." Souveränität zu beweisen und nicht jede Meldung ernst und wichtig zu nehmen, das wäre gut. Ist jedoch nicht einfach.

Es ist also ein Kreuz mit dem guten Benehmen. Dabei gibt es ja sogar so etwas wie einen Knigge für das Internet. Schon im Jahr 2010 veröffentlichte der Deutsche Knigge-Rat Höflichkeitsregeln für den Umgang in sozialen Netzwerken, den "Social-Media-Knigge". Heute vielfach als "Netiquette" bezeichnet - ein Kunstwort aus dem englischen "net" für Internet und dem französischen "etiquette" für Verhaltensformen. Das Dokument empfiehlt in zwölf Punkten sowohl Technisches wie leichte Lesbarkeit als auch einen geordneten, den Regeln der Grammatik folgenden Satzaufbau und warnt vor "plumpen Vertraulichkeiten". Und bei allem, was man im Netz kundtue, solle man stets die Frage im Auge behalten: Möchte ich, dass meine Meinung auch nach zwei Jahren noch gelesen werden kann? Oder, um es mit der Sozialwissenschafterin Annette Rößler zu sagen: "Lesen Sie das Geschriebene noch einmal durch, bevor Sie es versenden oder posten."

Angesichts der Geschwindigkeit, mit der das Internet unser Leben verändert, wirkt der "Social-Media-Knigge" schon wieder ein wenig angestaubt. In seinen aktuelleren Updates geht es um das richtige Zitieren, Urheberrechte und das Recht am eigenen Bild sowie ums heute übliche Duzen. Er mahnt zur Nutzung von Emojis, um die fehlende Gestik und Mimik der beteiligten Personen zu kompensieren. Verpönt sind übrigens durchgehend gesetzte Großbuchstaben - das gelte im Netz als Schreien. Erlaubt ist jedoch der Netzjargon, LOL (laughing out loud) oder OMG (oh my god) oder auch !!11elf, was Ironie ausdrücken soll. Was jedoch ist Ironie wert, wenn man sie als solche kennzeichnen muss? Und welche Emojis müsste der Journalist und Literat Anton Kuh heutzutage verwenden bei seiner höchst aktuellen Frage: Warum denn sachlich, wenn es auch persönlich geht?

Vor allem ein Punkt erhitzt die Gemüter. Der Benimmkatalog fordert, so oft wie möglich seinen Klarnamen zu verwenden. Dies vermeide Missverständnisse und sorge dafür, die Hemmschwelle für unangemessene, erniedrigende oder beleidigende Beiträge deutlich heraufzusetzen. Doch gerade bei der Anonymität im Netz sind die Lager offenkundig unversöhnlich. Schon 2014 konstatierte der IT-Journalist und Analyst Jonas Westphal auf dem Internet Summit Austria (ISA), einem österreichischen Forum der Web-Community und der Internetwirtschaft, in Wien: "Unsere Gesellschaft benötigt mehr Pseudonymität und Anonymität. Sie benötigt keine Klarnamenpflicht und keinen Identifikationszwang. Wir müssen neue, sichere und geschützte Kommunikationsräume schaffen. Eine freie Gesellschaft mit Identifikationszwang ist nicht mehr frei."

Auf derselben Veranstaltung konterte seinerzeit der Journalist Sebastian Hofer vom Magazin "profil" mit Blick auf Pöbeleien im Netz: "Eine Zivilisierung von Online-Debatten wäre demokratiepolitisch sinnvoll, Klarnamen können ein wichtiger Schritt zu diesem Ziel sein - und sei es nur als Signal, das sagt: Hier gelten Regeln."

Allerdings andere Regeln als jene, die seinerzeit Freiherr Knigge formuliert hat. Oder doch nicht? Knigge beschreibt sein Buch als Anleitung "über den Umgang mit sich selbst" sowie "mit Leuten von verschiedenen Gemütsarten, Temperamenten und Stimmungen des Geistes und Herzens". Manche Dinge ändern sich nicht. Andere kommen wieder. Helmut Gansterer etwa ist von der Zyklentheorie überzeugt. Demnach wird mit der Zeit vieles langweiliger werden, die schlimmsten Rowdys werden aufgeben. Der Journalist und Autor des Buchs "Darf man per E-Mail kondolieren?" sieht es, ähnlich wie Schäfer-Elmayer, als Zeichen von Reife, mit Frustration umgehen zu können. Es sei Erwachsenen zumutbar, Mäßigung und Gelassenheit gelernt zu haben. Anders verhalte es sich mit jungen Leuten.

Anfangs, so Helmut Gansterer, hätten ihn Shitstorms und Hassbotschaften entsetzt. Dann habe er die Verzweiflung der Kinder und Jugendlichen darin erkannt, die - nicht zuletzt aufgrund der aktuellen multiplen Krisen - von einem "No future"-Gefühl überschwemmt worden seien. "Da bin ich heilfroh, dass Smartphone und Internet hier ein Ventil zur Entlastung waren und sind."

Höflichkeit hält er dennoch für einen ganz wichtigen Faktor einer Gesellschaft, ob analog oder digital. Und darf man per E-Mail nun kondolieren? "Ja, um rasch sein Mitgefühl zu bezeugen", sagt der Autor. "Aber nur, wenn man dem Mail einen handgeschriebenen Brief folgen lässt."