SN.AT / Panorama / Wissen

WHO-Expertin warnt vor einer "Like-Pandemie" durch Social Media

Ilona Kickbusch fordert nicht nur an Schulen handyfreie Räume. Die Gesundheitsexpertin erklärt, wie Corona Kindern geschadet hat, und wirft Teilen der Lebensmittelindustrie vor, verantwortungslos zu sein.

Kinder werden mit ihren Problemen und Nöten vielfach alleingelassen, kritisieren Fachleute.
Kinder werden mit ihren Problemen und Nöten vielfach alleingelassen, kritisieren Fachleute.
Ilona Kickbusch: Die Politikwissenschafterin aus Deutschland ist Leiterin des globalen Gesundheitsprogramms am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf – und eine Beraterin der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie eine Expertin für Kinderrechte.
Ilona Kickbusch: Die Politikwissenschafterin aus Deutschland ist Leiterin des globalen Gesundheitsprogramms am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf – und eine Beraterin der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie eine Expertin für Kinderrechte.

Beim am Dienstag beginnenden European Health Forum Gastein ist Ilona Kickbusch eine der Vortragenden: Die Deutsche ist Leiterin des globalen Gesundheitsprogramms am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf - und eine Beraterin der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie eine Expertin für Kinderrechte.

In vielen Ländern wie auch Österreich wird heuer gewählt. Welchen Stellenwert haben hier die Kinder, die ja nicht wählen dürfen, und ihre Rechte? Ilona Kickbusch: Es gibt eine internationale Konvention für Kinderrechte mit einer Reihe von Schwerpunkten zum Schutz der Gesundheit der Kinder. Die haben fast alle Länder unterschrieben - außer den USA. Es reden alle Politiker gern von Kinderrechten, aber konkret wird für sie oft wenig getan - in den Bereichen soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung. Denn Kinder, die in Armut leben, sind im Schnitt auch weniger gesund. Weiters bringen Umweltkatastrophen für Kinder große Vulnerabilität und Benachteiligungen mit sich. Darauf hat auch die Unicef hingewiesen. Auch die neue digitale Welt hat teils gravierende Folgen für die Kinder.

Die UNO hat die angesprochene Kinderrechtskonvention bereits 1989 verabschiedet. Fachleute bemängeln, dass sie selbst in EU-Ländern nicht immer eingehalten wird. Ja. Die meisten dezidierten Kinderrechte werden nicht so umgesetzt, wie sie in der Konvention, die 54 Artikel hat, stehen. Speziell das Recht auf Nichtdiskriminierung wird oft nicht eingehalten, nicht nur bei Kindern mit Behinderung, sondern auch bei sexuellen Minderheiten sowie Kindern mit Migrationshintergrund. Die Konvention hat aber noch drei weitere zentrale Rechte - wie jenes auf Anhörung und Partizipation: Es wird in den meisten Ländern nicht ernst genommen, dass Kinder zu Gesetzen, die sich auf sie auswirken, gefragt werden müssen. Nur in wenigen Ländern gibt es Kinderparlamente, die starke Rechte haben. Vorreiter ist hier Wales, wo es sogar einen Minister gibt, der die Beschlüsse dieses Parlaments umsetzen muss. Weiters gibt es in der Konvention das Recht auf Leben und Entwicklung: Das impliziert eine gute Gesundheitsvorsorge, einen Zugang zu Schulen und gesunder Nahrung. Das vierte Recht ist der Vorrang des Kindeswohls bei politischen Entscheidungen - etwa Novellen im Familien- und Scheidungsrecht.

Sie referieren beim European Health Forum Gastein zur "Like-Pandemie", wie es dort heißt. Sind die sozialen Medien tatsächlich so schädlich für Kinder, dass man von einer Pandemie sprechen muss? Es gibt eine sehr hitzige Diskussion in der Fachwelt dazu. Denn es gibt jetzt viel mehr Daten dazu als noch vor fünf Jahren. Speziell das heuer veröffentlichte Buch "Generation Angst" des US-Psychologieprofessors Jonathan Haidt hat wie eine Bombe eingeschlagen. Haidt zeigt mit seinen Daten auf, dass die psychische Gesundheit von Kindern, insbesondere von Mädchen, seit 2012 signifikant zurückgeht. Denn 2012 kamen Smartphones mit Kameras verstärkt auf den Markt. Damit kann man sich selber fotografieren und Bilder ins Netz stellen. Zudem startete der Boom von Instagram. Damit ging es mit dem Liken los; seither werden die Vorstellungen von Schönheit und Schlankheit auf Social Media breit diskutiert. Dadurch hat aber das Selbstbewusstsein von vielen jungen Frauen, die ihre Bilder hier zur Verfügung stellen, teils massiv gelitten - weil es zu viele unrealistische Schönheitsideale gibt. Die sah man vorher nur in Modezeitschriften, aber an denen wird man seither online permanent gemessen. Das schlägt sich massiv auf die Psyche. Dazu kommt der Wunsch nach ständigem schnellen Feedback mit dem Smartphone: Dieses Gerät hat damit eine pausenlose Bewertungsfunktion. Die User wollen kontinuierlich parat sein, um zu schauen, ob man gesehen und gemocht wird. Das bringt ein hohes Niveau an Nervosität, das sehr ungesund ist.

Mittlerweile planen oder überlegen Länder wie die Niederlande und Italien ein Komplettverbot von Handys an Schulen. Ist das sinnvoll? Manche Länder haben das schon sehr lange, etwa Singapur, Taiwan und Japan. Der Ansatz dahinter ist, dass man so einen smartphonefreien Raum schafft, wo die Kinder wieder direkt miteinander und nicht nur über das Telefon kommunizieren. Der Effekt wurde wissenschaftlich untersucht und es hat sich gezeigt, dass ein Handyverbot an Schulen sehr positive Auswirkungen hatte. Es geht auch stark um die Terminologie: Denn man hat auch tabakfreie Räume geschaffen, um die Kinder durch Zigarettenrauch nicht zu schädigen. Jetzt muss man eben handyfreie Räume schaffen. Umgesetzt wird das, indem Kinder ihr Gerät am Schuleingang abgeben. In Island hat man diese smartphonefreien Räume in Schulen und Jugendzentren gemeinsam mit den Kindern eingeführt und mit ihnen zusammen auch die Regeln dafür aufgestellt. Dadurch hat man eine sehr positive Reaktion von den Kids und Jugendlichen bekommen, weil sie selber merken, wie stark sie das Handy unter Druck setzt. Für viele Kinder ist es sogar eine Hilfe, nicht ständig erreichbar sein zu müssen.

Andere Länder wie Neuseeland, manche US-Bundesstaaten und wieder Italien wollen oder haben ein Mindestalter für manche Social-Media-Kanäle. Lässt sich das kontrollieren? Das wird immer mehr diskutiert und ist ebenfalls eine Empfehlung von Jonathan Haidt. Vor 60 Jahren wurde erstmals ein Kinder-TV-Programm eingeführt. Als Folge wird analog dazu diskutiert, ob man nicht genauso spezielle Social-Media-Plattformen nur für Kinder und Jugendliche einrichten sollte. Denn die Überprüfung von Alterslimits für Instagram, Facebook & Co. ist schwierig. Zudem kann man die Inhaltsdiskussion nicht losgelöst von der Frage des Zugangs zu diesen Netzwerken führen. Wenn Kinder sechs Stunden im Internet hängen, ist man ja meist auf mehreren Websites und Plattformen unterwegs. Und eine Maßnahme allein wird hier nicht das Problem lösen.

Was schlagen Sie vor? Man braucht neben handyfreien Räumen, anderen inhaltlichen Onlineangeboten für Kinder auch Schutzmaßnahmen für sie - sowie aufmerksame Eltern und auch Zeitlimits für die Social-Media-Nutzung der Kinder. In China etwa dürfen Kinder nicht länger als 30 Minuten am Stück ein Videogame spielen, denn das wird technisch überwacht und dann abgeschaltet. Aber es wird immer Leute geben, die versuchen, technische Barrieren zu umgehen. Wichtig ist aber, dass man den bestmöglichen Schutz für Kinder anstreben sollte. Auch hier gibt es immer wieder welche, die diesen Schutz ablehnen, mit dem Argument, dass er nicht wirken würde. Aber wir erinnern uns: Das war bei der Raucherdebatte auch so. Mittlerweile halten sich praktisch alle an das Gebot von rauchfreien Innenräumen; das schafft zudem auch eine neue soziale Atmosphäre.

Diese Woche hat der Facebook-Mutterkonzern Meta angekündigt, bei Instagram diverse Regeln für unter 16-Jährige einzuführen, wie etwa eine vorgeschriebene Nachtruhe. Reicht das aus Ihrer Sicht aus? Es ist eine brauchbare Maßnahme, aber das allein reicht nicht aus. Allerdings: Jede Maßnahme ist besser als keine. Denn es ist schon sehr spät, dass hier einer der Big-Tech-Konzerne reagiert; da muss es im Hintergrund dementsprechend hohen Druck gegeben haben. Außerdem gibt es neue Digitalregeln in der EU; da ist die Union aufgewacht: Wenn man darauf als Big-Tech-Konzern nicht reagiert, wird die Keule des Gesetzes noch stärker zuschlagen. Mittlerweile reden die Regierungschefs über den zu hohen Konsum von Social Media. Konkret haben etwa der australische und der neuseeländische Premierminister hier Maßnahmen angekündigt. Bemerkenswert ist: Der Neuseeländer ist extrem konservativ; der Australier ist Sozialdemokrat, aber im Hinblick auf Smartphones und Kinder haben sie dieselbe Richtung. Das ist ein hoffnungsvolles Signal. Denn wenn so ein Thema nur einer politischen Richtung zugeordnet wird, ist es schwierig, einen Konsens und Mehrheiten zu finden und etwas umzusetzen. Langsam beginnen auch die Gesundheitsministerien zu reagieren. Neu ist etwa, dass die schwedischen Gesundheitsbehörden scharfe Warnungen vor Social Media herausgegeben und Konsequenzen für Schulen angekündigt haben. Dabei war Schweden eines der ersten Länder, die Schulen und Kindergärten stark digitalisiert haben. Aber ein Teil dieser Digitalisierung wird jetzt wieder zurückgenommen, weil sie gesundheitsschädlich ist.

Eine weitere Pandemie, die vor allem die psychische Gesundheit vieler Kinder negativ beeinflusst hat, war Corona - samt den Folgen wie Lockdowns, Schulschließungen, Homeschooling & Co. Wie hat sich das auf die aktuelle Kindergeneration ausgewirkt - samt Langzeitfolgen? Zum Teil laufen hier noch die Forschungen, denn so lange ist die Pandemie noch nicht her. Aber auf jeden Fall geben die psychischen Folgen für Kinder und Jugendliche schon jetzt Anlass zu sehr viel Sorge. Das hängt ja auch mit Social Media zusammen, weil viele Kinder in dieser Pandemie sehr viel auf diesen Plattformen unterwegs waren. Viele Fachleute sind besorgt, dass die Ängstlichkeit der Kinder dadurch zugenommen hat und sie jetzt Schwierigkeiten haben, sich in einem öffentlichen Raum sozial zu entfalten. Und, dass ihre Kommunikationsfähigkeit abgenommen hat. Es gibt hier sehr viele besorgniserregende Fakten, was die psychische Gesundheit dieser Generation angeht. Viele Kinder haben in der Coronazeit sehr wenig Bewegung gemacht, das wirkt sich auch auf ihr Gehirn und ihr Wohlbefinden aus. Diese Interaktion der physischen und der psychischen Gesundheit ist ein sehr wichtiger Aspekt der Coronafolgen.

Was wir noch nicht wissen, ist, ob es Long-Covid-Folgen auch bei Kindern und Jugendlichen gibt. Da wird uns die Wissenschaft erst in ein paar Jahren mehr sagen können. Aber wenn wir uns die Zahlen bei Erwachsenen ansehen, ist es wahrscheinlich. Ein weiteres Thema ist Brain Health, also die Gesundheit unseres Gehirns. Denn die Hirnentwicklung ist gerade im Alter von 8 bis 14 Jahren sehr intensiv und geht dann bis zum Alter von 21 bis 22. Viele Experten sind sehr besorgt, dass es durch die teils klaustrophobischen Bedingungen in der Coronazeit hier bei vielen Kindern zu negativen Entwicklungen kam.

Wie sollte die Politik hier gegensteuern, um nicht eine psychisch beeinträchtigte "Generation Corona" heranwachsen zu lassen? Wir haben natürlich bereits eine Generation Corona! Der Punkt ist, ob wir im Schul- und Erziehungssystem und im sozialen Umgang mit diesen Kindern dieses Faktum auch berücksichtigen - und etwa die Kinder und Jugendlichen fragen, was ihre Sorgen sind. Und: Werden wir diesen jungen Menschen auch entsprechende Hilfsangebote machen? In vielen Ländern sieht man leider, dass das Geld für Soziales und Gesundheit immer knapper wird - und daher auch für Kinder und Jugendliche. In manchen Ländern muss man für einen Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater oft bis zu sechs Monate warten. Da kann es aber schon zu spät sein. Wenn man hier nicht genug Profis für die Versorgung hat, muss man sich vielleicht auch andere Wege überlegen - wie Gruppen- statt Einzeltherapien. Es ist aber nicht jedes belastete Kind gleich ein psychiatrischer Notfall. Auch der schon erwähnte renommierte US-Psychologieprofessor Jonathan Haidt klagt, dass die Angebote für Kinder generell weniger werden - etwa Spielplätze, Treffpunkte und Plätze, wo es nicht nur ums Lernen oder Konsumieren geht. Viele Jugendliche treffen sich heutzutage oft im Einkaufszentrum, weil es keine Jugendzentren mehr gibt. Aber dort geht es primär um Fast Food und süße Getränke statt um konsumfreien Austausch. Denn Konsum ist überall zugänglich. Es gab in Island ein gutes Projekt namens Planet Youth, das vor 20 Jahren gestartet ist: Damals hatte dieses Land ein großes Problem mit Jugendlichen, die rauchten und/oder Alkohol und Drogen konsumierten. Bei dem Projekt wurden dann gemeinsam mit den Jugendlichen neue Orte für sie entwickelt. Mittlerweile hat Island die niedrigste Inzidenz bei Alkohol, Drogen und Rauchen bei Jugendlichen! Geschafft haben sie das durch Investitionen in solche konsumfreien Räume - und Nachfragen bei sowie Beteiligung der Jugendlichen.

Stichwort Konsum: Ein weiteres Thema, bei dem bereits viele Kinderärzte von einer Pandemie sprechen, sind Übergewicht und Adipositas - die oft mit zu viel Social-Media-Konsum und mangelndem Sport samt Vereinsamung in der Coronazeit assoziiert werden. Ich würde sagen: Die Übergewichtspandemie wird vorrangig durch unser Lebensmittelsystem verursacht. Denn die Art und Weise, wie sich viele Familien ernähren, ist ein Problem. Speziell, wenn man finanziell nicht so gut gestellt ist, ernährt man sich oft nährstoffarm. Also, man isst vor allem verarbeitete Lebensmittel; Proteine und Vitamine fehlen dann oft. Gerade in den letzten Jahren ist häufig aufgezeigt worden, dass industriell verarbeitete Lebensmittel oft negative gesundheitliche Folgen nach sich ziehen, weil sie häufig sehr viel Zucker enthalten. Hier spielen vor allem die Süßgetränke eine wichtige Rolle - aber auch die gesüßten Tees und Joghurtgetränke. Das dann in Verbindung mit einem Leben, in dem man sich wenig bewegt und keine Lust auf Sport hat, ist brandgefährlich. Das sehen wir jetzt an dieser Pandemie. Denn der Mangel an Bewegung lenkt oft von der Mitschuld der Nahrungsmittelindustrie ab. Und Konzerne wie Coca-Cola finanzieren zum Ausgleich dann Sportprogramme. Aber der Großteil des Problems liegt im Lebensmittelsystem; das können die Verantwortlichen mit punktuellem Sponsoring nicht kompensieren. Das ist dann - analog zu Greenwashing im Klimaschutz - eben Healthwashing!

In Österreich sind 28 Prozent der Kinder und 26 Prozent der Jugendlichen übergewichtig oder adipös. Was sollte die Politik hier tun? Die tägliche Turnstunde gibt es ja noch immer nicht … Es geht wieder um eine Mischung von Maßnahmen. Sicherlich ist es wichtig, dass sich Kinder viel bewegen und ihnen ihr Alltag das ermöglicht. Früher gingen alle zu Fuß zur Schule, jetzt tut das fast niemand mehr. Auch Turnstunden sind wichtig; man braucht dafür aber genug Bewegungsräume. Weiters gibt es auch in fast allen westeuropäischen Ländern Diskussionen über eine Zuckersteuer, die aber politisch fast nicht durchzubekommen ist. In Lateinamerika, wo es diese Steuer in vielen Ländern wie Mexiko oder Chile schon gibt, ist der Anteil der übergewichtigen Kinder bereits rückläufig. Denn der Staat muss bereit sein, gesetzlich durchzugreifen: bei den Nahrungsmittelkonzernen und dem Zucker- und Salzgehalt ihrer Produkte. Bei der Bevölkerung muss ein Bewusstsein geschaffen werden, dass man von den industriell verarbeiteten Lebensmitteln nicht zu viel essen sollte. Man kann auch die Mehrwertsteuer diesbezüglich verändern. Aber: Die Lebensmittelindustrie in Deutschland hat etwa stark gegen die sogenannte Lebensmittelampel (die farblich den Anteil an Fetten, Zucker und Salz im Produkt abbildet, Anm.) mobilgemacht. Auch freiwillige Kennzeichnung ihrer Produkte mit dem Nutri-Score, der ähnlich aufgebaut ist, haben viele Firmen wie etwa Danone wieder zurückgenommen. Denn viele Unternehmen weigern sich, die Konsumenten hier transparent zu informieren. Denn die Lebensmittel- und Landwirtschaftslobby ist da sehr stark und es wird zu wenig gesetzlich geregelt. Aber das zeigt auch, dass das Kindeswohl aus der UN-Konvention beim Thema Ernährung nicht im Vordergrund steht.

Ein bei uns im Wahlkampf heiß diskutiertes Thema ist Kinderarmut. Was würde eine von manchen Parteien geforderte Kindergrundsicherung bringen? Und gibt es hier bereits Erfahrungen aus anderen Ländern? Es gibt unterschiedliche Formen von Sozialpolitik. Aber es wird häufig auf die skandinavischen Länder verwiesen, die die Förderung des Kindeswohls viel ernster nehmen - auch finanziell. Es braucht die Absicherung von Kindern, die in Armut leben, weil diese viele Auswirkungen hat: Kann man sich ein Buch oder Schuhe kaufen - oder am Schulausflug teilnehmen? Das ist absolut zentral und entspricht auch den Kinderrechten aus der UN-Konvention. Eine Kindergrundsicherung wäre daher absolut sinnvoll.

Debattiert wurde und wird auch immer wieder über ein warmes Mittagessen für alle Kinder - speziell nach einem Sager von Bundeskanzler Nehammer in einem Video; die Trennung mit zehn in AHS und Mittelschule oder die Frage, ob getrennte Deutschförderklassen nicht stigmatisierend sind … Was man weiß: Ein warmes Mittagessen ist sehr zentral, denn die Kinder lernen dann besser. Zudem wird dadurch auch ein gutes soziales Umfeld erzeugt, wenn alle Kinder zur gleichen Zeit das gleiche Essen erhalten und nicht Vergleiche anstellen wie "Ich habe Schinken am Brot und du nicht". Einige Länder führen dieses Schulessen auch wieder ein, weil es eine Maßnahme für Nichtdiskriminierung ist. Denn manche Kinder bekommen eben keine ordentliche Jause in die Schule mit. Wer vorschlägt, mittags Burger zu essen, den kann man nicht ernst nehmen.

Zum Thema der Trennung nach der Grundschule: Es gibt in vielen Ländern Gesamtschulen, die haben vielfach gute Ergebnisse im Pisa-Test, wie etwa in Finnland. Und wären auch ein Beitrag zur Integration und zur Nichtdiskriminierung von Migrantenkindern. Aber man kann nicht erwarten, dass dann in der Integration alles von selbst läuft: Es wird dennoch zusätzlichen Sprachunterricht brauchen. Diesen Zusatzunterricht kann man aber auch unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen machen. Denn da könnten eventuell auch Jugendliche den kleineren Kindern etwas beibringen. Viele Lernorte bei uns sind ja nicht integrativ und nicht kreativ genug. Viele Lehrpersonen sind überfordert. Aber in Ländern, wo die Lehrer wirklich fürs Lernen zuständig sind und ihnen unterstützend Lehrkräfte zugeordnet sind, die für das Soziale zuständig sind, bringt das für alle große Vorteile. Aber: All das bedeutet mehr Investitionen - bringt uns aber auch eine bessere wirtschaftliche Entwicklung, weil diese Schulabsolventen dann viel besser auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft einsetzbar sind - Stichwort: Digitalisierung und vierte industrielle Revolution. Darauf müssen wir die Kinder und Jugendlichen vorbereiten. Aber das tun wir nicht.

Wie kann man die Eltern entlasten, damit sie sich trotz Berufstätigkeit besser um ihre Kinder kümmern können? Welchen Vorteil würden hier flächendeckende, günstige Ganztagskinderbetreuung oder ein leistbares Betreuungsangebot für die Sommerferien bringen? Ich glaube, das Wichtigste für Eltern ist wirklich die Ganztagsbetreuung ihrer Kinder in der Schule. Denn in Ländern, wo die Kinder über den größten Teil des Tages gut beschäftigt sind, ist das eine wichtige Entlastung für die Eltern. Das gilt auch für Kinderkrippen und Kindergärten. Denn so viele Eltern sind alleinerziehend, gerade Frauen! Die würden gerne mehr arbeiten - für ihr Einkommen und ihre psychische Gesundheit. Aber für die braucht es Kinderbetreuungsangebote, für die man nicht zusätzlich zahlen muss. Da sind uns Länder wie Dänemark Jahrzehnte voraus, wo die Betreuung der nächsten Generation ein gemeinsames Anliegen ist. Es heißt ja nicht umsonst: Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.

Auch für die Ferien sollte es ein Lernangebot geben; Kinder sind ja extrem lernbegierig. Daher sollte man die strengen Grenzen zwischen Lernen und Spielen öfter aufheben. Neun Wochen im Sommer ohne Lernen sind sehr lang. In der Zeit kann man ja etwa auch bei einer Sommerbetreuung lernen, wie man beispielsweise eine Rakete baut, weil für solche Projekte im klassischen Unterricht ohnehin kein Platz ist. Denn für die Zukunft brauchen wir kreative Menschen! Wenn wir das nicht fördern, werden wir im globalen Wettbewerb wirtschaftlich hinterherhinken. Und wenn wir es nicht aus Kinderrechtsgründen tun, dann sollten wir es wenigstens aus ökonomischen Gründen machen, um nicht als Europa weltweit im Hintertreffen zu landen. Denn da geht es um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft!