467 Tage. So lang sind die israelischen Geiseln bereits in der Gewalt der Hamas. Ihre Freilassung ist nun zum Greifen nah. SN-Korrespondent Nikolaus Wildner beantwortet die drängendsten Fragen zu dem Abkommen.
1. Kann der Deal in letzter Minute noch platzen?
Wenn man die Radiosendungen hier hört, hört man Lieder über die Rückkehr von Menschen, die weg sind. Man hört Kommentatoren, die in Tränen ausbrechen. Es gibt Gespräche mit Angehörigen von Geiseln. Die Stimmung in Israel ist, dass der Deal abgeschlossen ist und am Sonntag in Kraft treten wird. Die Spitäler ergreifen alle Maßnahmen auf die Aufnahme der Geiseln. Der Deal steht. Die Frage ist, ob es jemandem wie Israels Finanzminister Bezalel Smotritch gelingt, diesen Deal noch zu Fall zu bringen. Es wirkt sehr unwahrscheinlich, aber der Deal kann noch scheitern. Auch in der ersten Woche, in der zweiten, in der fünften Woche. Das kann jederzeit zerbrechen. Es können beide Seiten die Bedingungen verletzten.
2. Nach wie vor greift Israel Gaza an. Das torpediert doch das Abkommen, nach dem sich so viele sehnen.
Anders als viele andere Dinge war das abzusehen. Ein Journalist des öffentlichen israelischen Rundfunks nennt das wenig schmeichelhaft "das Gesetz des Dschungels", das hier im Nahen Osten gilt. Damit meint er, dass wenn bei Kriegen in der Region ein Waffenstillstand und ein Zeitpunkt, wie jetzt Sonntagmittag, vereinbart ist, dass dann die Angriffe bis zur Minute des Inkrafttretens zunehmen. Beide Seiten wollen strategische Ziele erreichen. Sie wollen aber auch zeigen, dass sie aus freien Stücken einer Waffenruhe zustimmen und nicht, weil sie militärisch dazu gezwungen werden. Das heißt: All das ist ein Anzeichen dafür, dass eine Waffenruhe tatsächlich in Kraft tritt.
3. Bedeutet das Abkommen das Ende des Krieges?
Nein. Ich würde sagen: eher das Gegenteil. Wenn es Israels Premier Benjamin Netanjahu gelingen sollte, seine Regierung zusammenzuhalten, dann muss er dafür auch Angebote an den Rechts-außen-Rand der Koalition machen. An die Siedlerbewegung. Es wird kolportiert, dass er zum Beispiel in Aussicht stellt, den Siedlungsbau im Westjordanland auszuweiten. Der designierte US-Botschafter für Israel, Mike Huckabee, hat auch gesagt, so etwas wie ein von Israel abgetrenntes Westjordanland gäbe es gar nicht. Es sei Teil des historischen Israels und man sei einer Annexion des Westjordanlands durch Israel gar nicht abgeneigt. Das heißt: Wir sehen nur eine Unterbrechung der Kampfhandlungen. Aber wir sehen nichts, was eine Lösung des Nahostkonflikts bedeuten würde oder gar Frieden auf längere Zeit. Es kann sein, dass der Konflikt in den nächsten Jahren auch noch extremere Formen annehmen könnte. Vor allem, wenn man bedenkt, was in den vergangenen 15 Monaten auf beiden Seiten vorgefallen ist. Hier herrscht ein massives Trauma - sowohl in Israel wie auch auf palästinensischer Seite.
Nach Unterzeichnung des Abkommens wurde in Gaza gefeiert. Auf den Bildern waren auch viele gewaltverherrlichende Slogans dabei. Der Hauptverhandler der Hamas in Doha hat unmittelbar nach dem Zustandekommen des Deals gesagt, der 7. Oktober erfülle die Palästinenser mit Stolz. Dieses Abkommen sei ein Sieg für die Hamas. Viele fühlen sich in ihrem Weg bestärkt und verkünden das Ziel, die Vernichtung Israels, weiterverfolgen zu wollen. Wir sehen eine kurze Momentaufnahme, in der die Kampfhandlungen zum Erliegen kommen, aber wir müssen von der Möglichkeit ausgehen, dass der Konflikt noch extremer wird. Die Hoffnung lebt, dass es Kräfte gibt auf beiden Seiten, die diese Krise in eine Chance umwandeln können.