Die Opposition spricht von "Staatsstreich, Ermächtigungsgesetz und Militärdiktatur". EU-Parlamentarier fürchten über fast alle Parteigrenzen hinweg einen "schweren Schaden für Demokratie und Rechtsstaat". Doch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán gibt sich unbeeindruckt. Er lässt sich von der Ausschaltung des Parlaments nicht abhalten.
Mit der Zweidrittelmehrheit seines Fidesz-Parteiblocks installierte er am Montag ein Notstandsregime im Land, mit dem er, wie er sagt, einzig und allein die Coronapandemie bekämpfen will: "Wer nicht mitzieht, verweigert sich der Hilfe für die Menschen." 137 von 190 Abgeordneten votierten für die "Demokratiepause", gegen die in einer Onlinepetition noch bis zum Wochenende mehr als 100.000 Bürger protestiert hatten. Das waren allerdings viel zu wenige, um bei Orbán Eindruck zu hinterlassen. Und auch die Opposition im Parlament war zu schwach. "Wir können der Regierung keine unbegrenzte Machtlizenz ausstellen", sagte kurz vor der Abstimmung Bertalan Tóth, der Chef der Sozialisten. Genau die hat Orbán aber nun. Er kann ab sofort und ohne jede Frist per Dekret regieren. Das Parlament - und damit die Demokratie - ist ausgeschaltet.
Fidesz-Politiker Bence Rétvári beharrte darauf, dass dies sehr wohl zeitlich begrenzt sei: "Der Notstand endet, wenn die Pandemie besiegt ist." Allerdings gibt es im Gesetz keine Definition, wer das wann zu bestimmen hat. Orbán selbst meinte: "Wenn das Parlament entscheidet, dass der Notstand vorbei ist, ist er vorbei." Damit allerdings unterstrich er nur, dass er mit der Zweidrittelmehrheit im Rücken faktisch durchregieren kann.
Zu einer Aufhebung des Notstands gegen Orbáns Willen wird es nicht kommen, da sind sich fast alle politischen Beobachter in Budapest einig. Und bis dahin ist die Gewaltenteilung ausgehebelt. Exekutive und Legislative sind weitgehend verschmolzen. Mehr noch: Daran können nach geltender Rechtslage auch Wahlen nichts ändern. Denn bis zum Ende der "Gefahrensituation", wie der Notstand offiziell heißt, sind alle Abstimmungen verboten, Referenden eingeschlossen.
Die nächste reguläre Parlamentswahl ist für 2022 terminiert. Aber bis dahin könnte Orbán die Opposition politisch eliminiert haben, fürchten Regierungskritiker.
Die Möglichkeit dazu verschaffen ihm weitere Klauseln des Notstandsgesetzes, das hohe Strafen für die Verbreitung sogenannter "fake news" vorsieht sowie für Meldungen, die eine Panik auslösen könnten. Bis zu fünf Jahre Haft werden angedroht. Ähnliche Regelungen gelten für Verstöße gegen Quarantänemaßnahmen. Überwacht wird all dies nicht nur von der Polizei, sondern auch von der Armee. Seit dem 18. März patrouillieren auf den Straßen des Landes auch Soldaten, laut Orbáns Kanzleichef Gergely Gulyás, um "das Sicherheitsgefühl der Bürger zu stärken".
Die Armee ist allerdings auch in rund 140 strategisch wichtig eingestuften Unternehmen im Einsatz. Dort bilden Offiziere, Polizisten und Katastrophenschützer sogenannte Taskforces. Sollte es Orbán für nötig halten, können sie auf Befehl die Leitung in den Betrieben übernehmen. Eine parlamentarische Kontrolle gibt es nicht mehr. Dabei ist Ungarn bislang noch vergleichsweise schwach von der Coronapandemie betroffen. Am Montag zählte die amerikanische Johns-Hopkins-Universität 447 bestätigte Infektionen im Land. Es gibt 15 Tote.
Bereits seit 2018 läuft ein EU-Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn, weil Brüssel die Gewaltenteilung schon damals gefährdet sah. Ergebnisse gibt es bislang nicht.