Die Lungauerin und ehemalige Diplomkrankenpflegerin Michaela Lerchner hat einen Traum: "Ich wünsche mir, dass in unserer Gesellschaft eine psychische Erkrankung als genauso normal angesehen wird wie eine Erkältung oder ein gebrochenes Bein." Psychische Krankheiten seien weit verbreitet. "Jeder dritte Mensch weltweit leidet ein Mal im Leben an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung." Doch die Scham, darüber zu sprechen, sei groß. Lerchner hat selbst zwölf Jahre lang eine schwere Depression durchgemacht. Letztlich fand sie dadurch ihre Bestimmung: Seit 2016 leitet sie das Peer Center in Salzburg mit Zweigstellen in Zell am See und Tamsweg. In diesem Verein betreuen ehemals psychisch Kranke ehrenamtlich Menschen, die gerade eine Erkrankung durchmachen oder in einer Krise stecken. Kurz gesagt: Betroffene helfen Betroffenen.
Den bevorstehenden Welttag der psychischen Gesundheit nimmt Lerchner zum Anlass, um Mut zu machen, ärztliche Hilfe zu suchen und Angebote von Vereinen in Anspruch zu nehmen. "Das gilt besonders für den Lungau." Lerchner wuchs auf einem Bergbauernhof in Mariapfarr auf und weiß, wovon sie spricht. "Beim Thema psychische Krankheiten ist der Zugang zu den Lungauern schwierig, weil man so etwas hier nicht hat. Und wenn jemand psychisch krank ist, dann redet man nicht darüber. Und wenn es ganz schlimm wird, tun sich die Menschen eher etwas an, als dass sie sich Hilfe holen." Tatsächlich ist im Bundesland die Selbstmordrate im Lungau am höchsten. Die Landesstatistik ermittelt die Suizidrate durch die Anzahl der Suizide bezogen auf 100.000 Einwohner. Betrachtet man die zehn Jahre von 2012 bis 2021, zeigt sich, dass die Werte innergebirg rund 40 Prozent über jenen außergebirg lagen. Die Suizidrate im Lungau war mit 20,8 am höchsten, gefolgt von Pinzgau mit 18 und dem Pongau mit 15. 2022 ist die Rate gestiegen.
Um im ganzen Lungau auf das kostenlose Angebot der Zweigstelle in Tamsweg aufmerksam zu machen, fährt der Regionalbus der Linie 700 auf seiner Route seit Mitte September mit der Werbung des Peer Center durch den Bezirk. Am 16. Oktober lädt Lerchner zum Tag der offenen Tür in die Peer-Gruppe Tamsweg ein. "Wir bieten dort monatlich die Möglichkeit für Einzelgespräche an, ein Anruf genügt." Das nächste Mal ist Lerchner am 6. November und am 4. Dezember in Tamsweg. Die Gesprächsrunden in der Gruppe, die in Salzburg und Zell am See sehr gefragt sind, habe man in Tamsweg im Juni eingestellt, "weil aus Scham niemand kommt". Zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen würde im Lungau auch ein größeres Angebot an Fachärztinnen und -ärzten beitragen. "Die Leute müssen oft zu lange auf einen Termin warten."
Im Umgang mit psychischen Erkrankungen sei nach wie vor ein Stadt-Land-Gefälle festzustellen, betont die Psychotherapeutin und klinische Psychologin Maria Trigler. Sie leitet den Psychologischen Dienst am Kardinal-Schwarzenberg-Klinikum in Schwarzach. Multiprofessionelle mobile Teams betreuen auch viele psychisch kranke Menschen im Lungau zu Hause. "Am Land sind der soziale Druck und die soziale Kontrolle viel größer", sagt Trigler. Psychische Erkrankungen wie Depressionen würden seit einigen Jahren besser akzeptiert. "Aber die anderen schweren psychischen Erkrankungen sind nach wie vor ein großes Tabu." Das gelte etwa bei Psychosen (dazu gehört auch Schizophrenie) und bei Alkoholsucht und anderen Suchterkrankungen. "Hier gibt es eine große Scham, sich zu öffnen und Unterstützung anzunehmen, und zugleich eine große Scham der Familien, darüber zu sprechen."
Auch Trigler verweist darauf, dass die Menschen im Lungau wenige medizinische Anlaufstellen haben. Es bräuchte Anreize vor Ort, um Fachpersonal in abgelegenere Regionen zu bringen. "Dass Betroffene sofort fachliche Hilfe bekommen, sollte so selbstverständlich sein wie bei einer Grippe." Eines ist Trigler wichtig zu betonen: "Suizidalität ist keine Krankheit." Vielmehr würden Suizidabsichten den Schweregrad einer psychischen Erkrankung ausdrücken.
Für eine Veränderung brauche es die ganze Gesellschaft, Angebote und eine gemeinsame Sprache zum Thema Psyche. "Im Klinikum sehen wir das große Bemühen und die Motivation von Vereinen und Initiativen wie dem Peer Center, innergebirg einen Beitrag zu leisten." Trigler appelliert, diese Angebote auch in Anspruch zu nehmen.
Info: Tag der offenen Tür in der Peer-Gruppe Tamsweg, Bröllsteig 6 am 16. Oktober (11 bis 16 Uhr). Tel. 0676/8746 6722 (Michaela Lerchner).www.peercenter.at