"Entweder ich hänge mich auf, oder du hängst mich auf." Dieser im Jahr 2016 an seinen Freund Bernhard Tichy gerichtete Satz brachte sechs Jahre nach einem schweren Motorradunfall die Wende im Leben des Salzburger Kochs Peter Lammer. Er war schwer depressiv, weil er durch die massive Beinverletzung seinen geliebten Beruf nicht mehr ausüben konnte. Gemeinsam mit Tichy, er ist Tischler und Industriekletterer, entwickelte Lammer eine Steh- und Bewegungshilfe in Form eines Schwebesessels, die die Beine komplett entlastet und zugleich ermöglicht, dass beide Hände frei sind, um Lasten aufzunehmen. Seither "schwebt" Lammer mit dem Gerät namens "Standing Ovation" nicht nur durch seine Küche im Salzburger Johanneskeller, sondern dank der wiedergewonnenen Lebensfreude auf Wolke 7. "Ich wurde vom Beitragsnehmer wieder zum Beitragszahler", sagt Lammer. "Es ist mir eine Freude, dass ich die Sozialversicherung wieder bedienen kann." In Österreich wurden im Vorjahr 50 Arbeitsplätze mit dem in einer Salzburger Schlosserei hergestellten Schwebesystem "Standing Ovation" ausgestattet.
Bistro Bauchladen ist neue Teststation
Seit Jänner erleichtert das System auch zwei der sechs Mitarbeiterinnen in der Küche des Lokals Bauchladen im Business Boulevard in Salzburg-Schallmoos das Arbeitsleben. Das Bistro ist einer der Übungsbetriebe von "frauenanderskompetent". Der sozialökonomische Betrieb hilft arbeitslosen Frauen, wieder ins Berufsleben zurückzufinden. Aufgrund von zwei Bandscheibenvorfällen kann Claudia de la Rosa Denz, die 25 Stunden im Bauchladen arbeitet, nicht durchgehend stehen. "Das System ist eine tolle Sache, weil es meinen Rücken entlastet", sagt sie. Eine in ihrer Bewegung eingeschränkte Kollegin verwendet den Schwebesessel fast durchgehend.
Auch die anderen Mitarbeiterinnen nutzen den Sessel zur Entlastung
"Das Schöne ist, dass die ganze Belegschaft im Bauchladen das Gerät zur Entlastung verwendet, alle profitieren davon", schwärmt Betriebsleiter Andreas Auer. Es gebe so viele Köche, die ihren Beruf gesundheitsbedingt nicht mehr ausüben könnten. Das System sei wie ein Werkzeug, durch das Menschen mit Beeinträchtigung die Freude am Tun wiederfänden.
"Wir freuen uns, dass wir in Salzburg die Ersten und österreichweit einige der wenigen im Gastrobereich sind, die den Schwebesessel einsetzen", sagt Wolfgang Katsch, Geschäftsführer der anderskompetent gmbh. "Standing Ovation" helfe, dabei, Menschen wieder eine Perspektive zu geben.
Tichy verweist darauf, dass "Standing Ovation" nicht nur für die Gastronomie geeignet sei, sondern alle Menschen ergonomisch unterstützt, die Jobs haben, bei denen sie den ganzen Tag stehen und/oder heben müssen. Nicht nur die Beine würden entlastet, sondern auch die Wirbelsäule. "Das gilt für alle stehenden Berufe, egal ob die Leute im Verkauf tätig sind, am Förderband stehen oder Montagearbeiten erledigen."
Bauchladen ist nun Salzburger Teststation für das System
Der Bauchladen fungiert in Salzburg nun als Teststation für das Gerät. Interessierte können sich vor Ort anschauen, wie es funktioniert: An Führungsschienen über Kopf ist ein C-förmiger Bügel befestigt, an dem ein pneumatischer Sattel hängt, den man im Handumdrehen höher oder tiefer stellen kann. Durch eine gefederte Rotationseinheit erlaubt das Gerät jede Drehbewegung und ermöglicht ein dreidimensionales Bewegungsmuster.
AMS-Chefin: "Das war erst der Kick-off, jetzt geht's los"
Die Kosten von 50.000 Euro für das nun im Bauchladen installierte System teilen sich das Arbeitsmarktservice Salzburg (AMS) und die Landesstelle Salzburg des Sozialministeriumservice.
AMS-Chefin Jacqueline Beyer verweist auf die angespannte Lage am Arbeitsmarkt: "Wir haben ein großes Plus bei den langzeitbeschäftigungslosen Personen. Zu 62 Prozent sind Frauen länger als ein Jahr nicht in Beschäftigung, und davon haben 82 Prozent gesundheitliche Einschränkungen. 70 Prozent dieser Frauen sind über 45 Jahre alt." Die Wirtschaft könne nicht auf Menschen verzichten, die arbeiten möchten, dies aber nur deshalb nicht können, weil sie gesundheitlich eingeschränkt seien. "Noch dazu wo es eine Lösung wie ,Standing Ovation' gibt." Ziel sei es, andere Betriebe auf diese Lösung aufmerksam zu machen. Das System helfe dabei, Personal länger im Betrieb zu halten. Die Präsentation im Bauchladen sei der Kick-off. "Jetzt geht es los."
Arbeitspotenzial von Menschen mit Behinderung wird zu wenig genutzt
Berufliche Teilhabe sei ein wesentlicher Aspekt einer inklusiven Gesellschaft, sagt Gernot Wesner, Leiter der Sozialministeriumservice Landesstelle Salzburg. Arbeit sei zentral für ein selbstbestimmtes Leben. Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen erfahren immer wieder Barrieren aufgrund ihres Umfelds. Es gelte, die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz individuell anzupassen. "Es braucht spezifische Lösungen, sei es dass man Arbeitsabläufe neu denkt, Aufgaben auf mehrere Personen aufteilt oder technische innovative Lösungen wie diese nutzt." Inklusion sollte nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein. "Es gibt ein großes Arbeitspotenzial von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen , das noch zu wenig genutzt wird." Es gelte ein Bewusstsein zu schaffen, die Inklusion sei oft einfacher als angenommen. Derzeit müssen alle Arbeitgeber in Österreich mit 25 oder mehr Beschäftigten begünstigte Behinderte (Grad der Behinderung mindestens 50 Prozent) einstellen. Wesner weist darauf hin, dass nur 20 Prozent der 1800 einstellungspflichtigen Betriebe im Bundesland die Quote zu 100 Prozent erfüllen, die anderen bezahlen die Ausgleichstaxe. Sie beträgt in Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern monatlich 320 Euro pro offener Stelle. Bei Firmen mit 100 bis 399 Mitarbeitern sind es 451 Euro.
Patent für ganz Europa liegt vor
Einen Meilenstein haben Lammer und Tichy nach einem jahrelangen Prozess geschafft: "Wir haben seit November 2024 das Patent für ganz Europa und sind nun auf der Suche nach Vertriebspartnern", sagt Lammer. Auch das Patent für Israel und Kanada liegt vor. "In Deutschland ist ,Standing Ovation' in namhaften großen Unternehmen in der Industrie im Einsatz, und zwar präventiv für Mitarbeiter, die Steharbeitsplätze im Dreischichtbetrieb haben", betont Lammer. Zwei weitere Industrieriesen hätten bereits angefragt. Im Einsatz ist der Schwebesessel auch in Bayerns größtem Unfallklinikum Murnau und im AUVA-Rehazentrum Häring. Am Samstag fahren Lammer und Tichy nach Kopenhagen, um das Gerät bei der von Interessierten aus ganz Skandinavien besuchten Messe Danish Care vorzustellen.