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Katar-WM ohne Migranten unmöglich, viele zahlten mit Leben

Am 20. November beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Seit der WM-Vergabe 2010 musste das reiche Emirat viel Kritik einstecken. Vor allem die Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter und die zahlreichen Todesfälle auf den Baustellen sorgten für Aufsehen. So berichtete der "Guardian" im Februar 2021 von 6.500 gestorbenen Menschen aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka innerhalb von zehn Jahren. Katars Regierungspressestelle relativierte die Zahlen damals.

Am Bau sind nur Gastarbeiter tätig, die Arbeitsbedingugen sind hart
Am Bau sind nur Gastarbeiter tätig, die Arbeitsbedingugen sind hart

Über 1,4 Millionen Menschen aus diesen Ländern würden in Katar leben, weitere Millionen hätten in den vergangenen zehn Jahren hier gelebt und seien in die Heimat zurückgekehrt, hieß es. Von diesen Millionen Menschen sei ein "kleiner Prozentsatz" verschieden, die Sterberate liege also in einem Bereich, der für diese Größe und diese demografische Zusammensetzung zu erwarten sei, so die Reaktion aus Doha damals. Doch auch eineinhalb Jahre später gibt es vollkommen unterschiedliche Zahlen, wenn man nach den auf den WM-Baustellen Verstorbenen fragt.

So kritisiert Mahmoud Qutub, der im WM-Organisationskomitee für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zuständig ist, beim Besuch einer fjum-Journalistendelegation in Doha, dass der "Guardian" in seine Berechnungen damals auch Verkehrstote einbezogen habe. Die britische Zeitung schrieb damals jedoch, dass die Zahl der Toten noch weitaus höher sei, da man sich nur auf die Toten aus den fünf Ländern konzentriert habe, auf den Baustellen aber auch Menschen aus anderen Staaten verstorben seien.

Die International Labour Organisation (ILO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, spricht von 50 arbeitsbezogenen Todesfällen im Jahr 2020. Davon seien 45 Prozent abgestürzt, 26 Prozent im Verkehr verunglückt und 16 Prozent von fallenden Objekten getroffen worden, sagt Max Tuñón vom ILO. Qutub berichtet hingegen von nur drei Toten beim Stadionbau und 37 nicht-arbeitsbezogenen Todesfällen im selben Jahr. "Wir verstecken nichts und legen alles offen", behauptet er.

Nick McGeehan von der NGO FairSquare schätzt hingegen, dass in allen sechs Golfstaaten zusammen jährlich mindestens 10.000 Arbeiter sterben "weil die Hitze einfach zu groß ist, um in 13-Stunden-Schichten am Tag zu arbeiten". Unter dem aktuellen System in Katar hätten viele Arbeiter zudem keinen Zugang zum Gesundheitssystem, obwohl die Arbeitgeber eigentlich verpflichtet wären, einen solchen zu gewähren. Behandlungen gebe es außerdem nur bei akuten Erkrankungen, chronische Krankheiten würden so gar nicht erkannt, kritisiert der Experte für die Golfregion. Nicht zu entschulden sei, dass "69 Prozent der Todesfälle nicht aufgeklärt sind", sagt McGeehan. In einem so guten Gesundheitssystem, wo die nötigen Technologien vorhanden seien, sollte der Anteil nur bei einem Prozent liegen, betont der Brite.

Der Versuch Katars den geschlossenen Arbeitsmarkt in einen offenen umzuwandeln und die rassische Diskriminierung mittels einer Arbeitsmarktreform zu beenden sei "sehr ambitioniert", dennoch glaube er nicht, "dass die Reform so funktioniert, wie geplant", sagt McGeehan. Offiziell war das Kafala-System 2020 abgeschafft worden. Bis dahin waren die Gastarbeiter an einen einheimischen Bürgen gebunden, der ihre Reisepässe einbehielt und ihre Ausreise sowie einen Jobwechsel verhindern konnte. Zwar gebe es keine zugänglichen Daten, wie sich die Situation in Katar seither verbessert habe, klar sei aber, dass es in Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten weitaus mehr arbeitsbezogene Todesfälle gebe, sagt Mc Geehan. "Die WM hat nur das Scheinwerferlicht auf Katar geworfen."

Mittlerweile gebe es zumindest einen Mindestlohn von umgerechnet 250 Euro im Monat, sagt Tuñón, der ILO-Büroleiter in Doha. Auch hätten sich die Beschwerden der Arbeiter von 2020 auf 2021 auf 24.650 quasi verdoppelt, ein Viertel der Fälle lande schließlich vor dem Arbeitsgericht. Durch einen Entschädigungsfonds seien rund 160 Millionen Euro an 37.000 Arbeiter ausgezahlt worden. Dennoch sage man "einem Arbeiter, der sich beschwert, er soll sich zunächst einmal einen anderen Job suchen", betont Tuñón. Der Grund sei, dass es Monate dauere, bis eine Lösung gefunden werde, und aus dem Ausland sei es praktisch unmöglich, etwas zu erreichen. Momentan gebe es rund 200 katarische Arbeitsinspektoren, doch da auf den Baustellen ausschließlich Gastarbeiter tätig seien, bleibe die Kommunikation ein Problem, berichtet Tuñón.

Durch die WM seien zweifelsohne zahlreiche Reformen angestoßen worden, die Vorbildwirkung für die Region haben, zeigt sich Tuñón dennoch überzeugt. "Wenn man qualifizierte Arbeitnehmer aus dem Ausland anziehen will, braucht es einen modernen Arbeitsmarkt". McGeehan hingegen sieht vor allem das Problem, dass die Reformen nicht auf den ganzen Arbeitsmarkt ausgeweitet wurden. Gerade für die zahlreichen weiblichen Hausangestellten, die oft sexuellem Missbrauch ausgesetzt seien, habe sich nichts geändert, sagt McGeehan. Eine Vergewaltigung anzuzeigen, ist diesen Frauen sowieso nicht anzuraten. Sollten sie es dennoch tun, droht ihnen aufgrund der streng-islamischen Gesetzgebung in Katar nämlich postwendend eine Anzeige wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr.

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