Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher nimmt im SN-Interview zu langfristigen Trends auf dem Arbeitsmarkt, ausstehenden Vorhaben der Regierung und zu seiner persönlichen Zukunft Stellung.
Sie haben sich bei der Metaller-Lohnrunde mit Ratschlägen zurückgehalten. Nun gibt es nach zähem Ringen ein Ergebnis. Wie beurteilen Sie den Abschluss? Martin Kocher: Ich halte mich auch bei der Beurteilung zurück, die Sozialpartner sind für die Lohnpolitik zuständig und die Regierung für die Rahmenbedingungen. Aber ich begrüße, dass es eine Einigung gibt und großflächige Streiks so gut es geht vermieden wurden. Die Sozialpartner haben trotz schwieriger Ausgangslage ihre Verantwortung wahrgenommen.
Der Abschluss für zwei Jahre ist doch ein Novum. Gefällt Ihnen diese Variante? Es ist zu begrüßen, wenn man innovative Lösungen findet. Es gab viele Vorschläge, einen hat man auch aufgegriffen, und man hat offenbar eine Lösung gefunden, die für beide Seiten akzeptabel ist.
Sehen Sie eine Vorbildwirkung für andere Branchen? Man wird sehen, ob der Handel Teile dieser Lösung übernimmt, die betroffene Branche weiß selbst am besten, wie sie damit umgeht. Es gab aber während der Metallerrunde in vielen Branchen Abschlüsse, die öffentlich nicht so stark wahrgenommen werden. Im Durchschnitt ist die Höhe aber sehr ähnlich.
Der "Economist" schreibt in seiner jüngsten Ausgabe, es seien goldene Zeiten für Arbeitnehmer. Begründet wird das mit der Demografie, politischen Maßnahmen und dem technologischen Wandel. Stimmen Sie dem zu? Es hat sich auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich etwas gedreht. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben eine größere Verhandlungsmacht und bei der Lohnfindung sowie den Rahmenbedingungen der Arbeit mehr Möglichkeiten. Das ermöglicht auch der Arbeitsmarktpolitik mehr Spielraum, Inklusion und Integration auf dem Arbeitsmarkt voranzutreiben. Es haben jetzt Gruppen auf dem Arbeitsmarkt Chancen, die es vor fünf oder zehn Jahren noch sehr schwer hatten. Gleichzeitig gibt es - Stichwort künstliche Intelligenz - Entwicklungen, die herausfordernd sind. Bei der Qualifizierung dreht sich das Rad noch einmal schneller.
Die Debatte rund um KI erinnert an die vor Jahren zur Digitalisierung. Da gab es auch große Sorgen, dass viele Jobs wegfallen könnten. Es kam anders. Diesmal auch? Ich glaube ja. Es gibt immer Ängste bei großen technologischen Schritten. Aber wenn man sich die vergangenen Jahrhunderte ansieht, gab es bei jedem technischen Fortschritt per Saldo mehr Arbeitsplätze als weniger. Ob das bei künstlicher Intelligenz anders sein wird, weiß derzeit niemand. Derzeit zeigen die Daten beim Nutzen von KI aber keine negativen Folgen auf die Arbeitsplätze. Ich bin optimistisch, dass es so bleiben wird. Wichtig ist, dass diesmal nicht die Gruppe der Geringqualifizierten betroffen ist, sondern eher Menschen mit höherer und mittlerer Qualifikation, bei denen ist es stärker verbreitet, sich weiterzubilden. Das macht das Abfedern der Veränderung einfacher.
Dass die Arbeitslosigkeit derzeit saisonal und konjunkturell bedingt steigt, ist dazu kein Widerspruch? Es ist wichtig, die langfristigen demografischen und technologischen Entwicklungen von der aktuellen Konjunktur zu trennen. Die Gefahr ist, dass man zu sehr auf die Gegenwart schaut und die Schritte, die wir für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre brauchen, verschiebt. Es ist jetzt alles zu tun, damit im nächsten Aufschwung genug gut ausgebildete Arbeitskräfte verfügbar sind.
Trotz steigender Arbeitslosigkeit gibt es einen Rekord bei den offenen Stellen. Das AMS will künftig stärker nach Kompetenzen statt Berufen vermitteln. Welchen Effekt erwarten Sie sich davon? Das Projekt ist lange vorbereitet und kann 2024 ausgerollt werden. Darin spiegelt sich, dass Berufsbezeichnungen die tatsächliche Tätigkeit oft nur begrenzt abbilden. Mit dem neuen Modell soll das Matching von Fähigkeiten und Anforderungen besser werden und es sollen stabilere Arbeitsbeziehungen entstehen. Die Vermittlung dauert vielleicht etwas länger, weil Qualifizierungsmaßnahmen nötig sind. Aber dafür besteht die Chance für mehr Zufriedenheit - beim Betrieb, weil er jemanden einstellen kann, der besser ins Jobprofil passt. Und bei den Beschäftigten, weil sie ihre Fertigkeiten besser einsetzen können.
Sie haben kürzlich eine Ausweitung auf 15.000 Rot-Weiß-Rot-Karten pro Jahr angekündigt. Ist der Arbeitskräftemangel ohne Zuwanderung nicht zu beseitigen? Man darf nicht den Fehler machen und nur auf die Rot-Weiß-Rot-Karte schauen. Das ist ein wichtiger, aber vergleichsweise kleiner Bestandteil einer internationalen Fachkräftestrategie. Für uns bleibt der europäische Raum wichtiger, 2022 sind 32.000 mehr Arbeitskräfte aus einem EWR-Land nach Österreich gekommen als Österreicher dorthin abgewandert sind. Das sind deutlich höhere Zahlen als die Rot-Weiß-Rot-Karte. Auch wenn man beides zusammenzählt, ist der Aufbau an Beschäftigungspotenzial und Qualifikation im Inland immer noch wichtiger - Arbeiten im Alter, eine höhere Erwerbsquote, der Ausbau einer guten Kinderbetreuung. Aber zu einer umfassenden Strategie gehören auch internationale Fachkräfte dazu.
Arbeitnehmervertreter und Opposition kritisieren seit Monaten, die Regierung mache zu wenig gegen die hohe Inflation. Ihre Antwort? Wir sind in den starken Anstieg der Energiepreise schon mit einer höheren Inflationsrate hineingegangen. Für Österreich hätte die EZB die Zinsen früher erhöhen müssen. Vorwiegend muss die Inflation von der Zentralbank bekämpft werden. Wir haben eine Reihe von Maßnahmen im Energiebereich oder bei Abgaben gesetzt, im Parlament liegt ein Vorschlag für einen Mietpreisdeckel - das sind alles Maßnahmen, die die Inflation dämpfen sollten. Die Regierung hat aber nur beschränkt Einfluss auf die Preise. Dass einige behaupten - Parteien oder angebliche Experten -, man könne die Preise leicht beeinflussen, halte ich für sehr gefährlich, weil das den Eindruck erweckt, Eingriffe hätten keine Nebeneffekte. Wir haben uns deshalb bewusst gegen einige Maßnahmen entschieden, die dramatische Effekte haben können, etwa Versorgungsprobleme oder hohe budgetäre Kosten. Ich glaube, wir haben einen guten Mittelweg gefunden. Dennoch muss es das Ziel sein, nächstes Jahr bei der Inflation auf das Durchschnittsniveau des Euroraums zu kommen.
Sie haben den Mietpreisdeckel erwähnt. Die Grünen wollen auch die freien Verträge einbeziehen. Wird sich die Koalition da einigen können? Ich bin in die Verhandlungen nicht eingebunden. Mein Ressort ist für die gesetzlichen Grundlagen im gemeinnützigen Wohnbau zuständig, die Umsetzung liegt bei den Ländern. Aber wir werden bei den rund 600.000 gemeinnützigen Wohnungen in Österreich diesen Deckel einführen. Das wirkt sehr stark, weil im nächsten Jahr eine große Erhöhung bevorstünde. Das kann man auch tun, weil es in dem Bereich bereits ausgewogene staatliche Regulierung gibt. Was den privaten Mietmarkt betrifft, gibt es für Vermieter keine Verpflichtung, Mieten um den Verbraucherpreisindex zu erhöhen. Da halte ich Eingriffe für nicht ganz einfach.
Inflation hängt auch davon ab, wie viel Konkurrenz es gibt. Funktioniert der Wettbewerb in Österreich so, wie es sich der Wirtschaftsminister wünschen würde? Im Großen und Ganzen schon, auch wenn es Bereiche gibt, wo man sich mehr Wettbewerb wünschen würde. Auch das ist ein Bereich, bei dem viele glauben, das könne man per Knopfdruck erreichen. Da und dort würden wir uns mehr ausländische Anbieter in Österreich wünschen, aber es gibt vermutlich gute Gründe, warum sie sich dagegen entschieden haben - Österreich ist ein kleiner Markt, der Markteintritt ist für internationale Konzerne vielleicht mit zu hohen Kosten verbunden. Wichtig ist, dass es klare und faire Regeln gibt. Und dass wir für Ansiedelungen attraktiv sind, damit Unternehmen zu uns kommen und den Wettbewerb stärken. Wir haben auch die Wettbewerbsbehörde mit einer massiven Ausweitung der Mittel und des Personals bewusst gestärkt, damit sie schlagkräftig ist.
Was wollen Sie im Wahljahr 2024 noch umsetzen? Wir haben noch viele Vorhaben auf der Agenda. Etwa in der Berufsausbildung, allen voran die Umsetzung der höheren beruflichen Bildung, für mich die größte Reform im Berufsbildungsbereich seit Einführung der Fachhochschulen vor 30 Jahren. Das soll die Lehre noch attraktiver machen. Es gibt bei der Klima- und Transformationsoffensive viel zu tun, wir müssen den Chips Act der EU umsetzen, für den es zusätzliche Budgetmittel gibt, um den Halbleiterstandort zu stärken. Es gibt also viel zu tun.
Was ist mit dem Lieferkettengesetz? Wir müssen noch auf die Richtlinie aus Brüssel warten, es gibt ja noch Verhandlungen zwischen dem EU-Parlament und dem Rat. Je nachdem, wie rasch das geht, entscheidet sich, ob das noch die aktuelle Bundesregierung national umsetzt.
Sie sind jetzt knapp drei Jahre Minister. Haben Sie so viel Gefallen an der Politik gefunden, dass Sie gerne weitermachen würden? Das hängt von zwei Dingen ab. Erstens, ob ich gefragt werde. Und zweitens, ob die Konstellation so ist, dass ich Dinge umsetzen kann, die ich für wichtig halte. Mir ist weniger wichtig, eine Position innezuhaben.
Abgesehen von den Rahmenbedingungen könnte es sein, dass Sie sagen: Es waren interessante Jahre, aber jetzt auf zu neuen Ufern? Ich will nicht ausschließen, in einer interessanten Konstellation wieder in der Regierung mitzuarbeiten. Ich habe nur ausgeschlossen, in einer FPÖ-geführten Regierung ein Ministeramt zu übernehmen, weil ich nicht mit einer Partei in einer Regierung sein will, die Probleme hat, wissenschaftliche Erkenntnisse anzuerkennen. Ich konzentriere mich jetzt darauf, die Legislaturperiode gut zu Ende zu bringen.
Und die Alternative? Ich habe sehr gerne in der Wirtschaftswissenschaft gearbeitet, es genossen, zu forschen und zu unterrichten. Ich würde auch gerne wieder zurückkehren und das auch nicht als Rückschritt sehen.
