Lädt man in L. A. seine Nachbarn zum Essen ein, kann man mit 90-prozentiger Sicherheit damit rechnen, dass diese mit dem Auto vorfahren, auch wenn sie nur wenige Schritte entfernt wohnen. Sind zufällig europäische Gäste zugegen, die sich darüber schockiert zeigen, heißt es kokett: "I know, für fünf Meter ins Auto zu steigen ist sooo very L. A.!" Soll ein Los Angeleno zu Fuß gehen wollen, warnt man ihn besser. Deshalb steht auf der Dinnerparty-Einladung, die wir eben erhielten, auch in großen Buchstaben: "Bitte Schuhe oder Stiefel anziehen, die zum Gehen geeignet sind!"
Allerdings handelt sich auch um kein normales gesetztes Dinner, das bei einem einzelnen Gastgeber stattfindet, sondern um eine sogenannte "Progressive Dinner Party", ein in den USA sehr beliebtes Konzept, bei dem die Gäste von mehreren benachbarten "Hosts" eingeladen werden. Man geht von Haus zu Haus, um beim ersten Gastgeber Vorspeise, beim zweiten Hauptspeise und schließlich beim letzten die Nachspeise zu genießen.
Die Häuser der Veranstalter liegen in der Regel nicht weiter als zehn Gehminuten von einander entfernt. Doch was für einen New Yorker ein normaler Fußmarsch ist, bedeutet für einen Los Angeleno einen regelrechten Ausnahmezustand. Abends zu Fuß durch die Straßen von West Los Angeles zu gehen, das gibt es einfach nicht, außer, der Hund muss unbedingt noch einmal hinaus. Dennoch ist es eine Fehleinschätzung, dass Los Angelenos nicht gerne marschieren. Und zwar nicht nur auf einem Laufband im Fitnesscenter. Auch wenn L. A.s Bürger ihre Autos lieben, haben viele von ihnen eine fast ebenso große Leidenschaft für das Wandern.
L. A. ist zwar für seine Freeways und nicht für seine Wanderpfade bekannt, doch wer hier zu Hause ist, weiß die ungezählten versteckten Trails mit blühenden Wiesen und atemberaubenden Aussichtspunkten über die Stadt bis weit hinaus auf den Pazifik zu schätzen.
Dass dennoch kaum jemand zu Fuß einkaufen geht, hat auch etwas mit Sicherheit zu tun. L. A.s Fußgänger sind mehr in Gefahr als anderswo. Laut einer Studie wird in Nordamerika einer von 100.000 Fußgängern von einem Fahrzeug getötet. In L. A. erhöht sich der Schnitt auf 7,64 Tote. In New York hingegen sind Fußgänger fast so sicher wie in Amsterdam.
Aber auch die Natur kann einem Los Angeleno gefährlich werden. Beim Wandern begegnet man nicht selten Klapperschlangen. Insgesamt werden jährlich rund 250 Kalifornier von Klapperschlangen gebissen. Jeder fünfte davon in Los Angeles County. Und am vergangenen Dienstag musste ein Fußgänger in Glendale erfahren, dass es nicht ratsam ist, in L.A. beim Gehen eine SMS zu verfassen. Denn er stieß beinahe mit einem Schwarzbären zusammen, der in der Stadt Mülltonnen nach Essensresten durchgeforstet hatte. Zum Glück hatte das 200 Kilo schwere Tier schon gespeist.
