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Europa singt: "Ich red' mir ein, es geht mir gut!"

Wer seine Krankheit zur Kenntnis nimmt, ist ein Hypochonder. Europa flüchtet sich in die Verweigerung der Realität.

Ronald Barazon

Ein köstliches Lied aus dem Jahr 1915, das durch Hermann Leopoldi in den Zwanzigerjahren berühmt wurde, gewinnt in Europa an Aktualität: "Ich red' mir ein, es geht mir gut!"

Nach dem spektakulären Absturz des Euro von 1,35 Dollar für einen Euro auf 1,09 Dollar für einen Euro bekommt man derzeit 1,13 Dollar für einen Euro. Von früheren Beträgen ist also keine Rede, aber allgemein wird die wieder gewonnene Stärke des Euro diskutiert.

Damit nicht genug: Orten Wirtschaftsforscher irgendwo eine Steigerung, die sich mit 0,2 oder gar 0,6 oder 0,7 Prozent darstellen lässt, so klingen die Meldungen wie die Berichte von einer Hochkonjunktur. Auch die in Umfragen angesprochenen Manager verbreiten Optimismus.

Dass tatsächlich Europa im internationalen Wettbewerb zurückbleibt, wird nicht zur Kenntnis genommen. Zudem tröstet man sich: Schließlich ist selbst die Wirtschaftswundermacht China nicht gegen Krisen gefeit. Und auch in den USA gibt es Probleme.

Die Wirtschaftspsychologen wissen, dass eine gute Stimmung wesentlich zum Erfolg beiträgt. Also: Schluss mit der Klage über die Rekordarbeitslosigkeit, die Investitionsschwäche, über das Abwandern der Begabten und ähnliche Nebensächlichkeiten. Leopoldi singt: "Wer seine Krankheit zur Kenntnis nimmt, ist ein Hypochonder!"

Dass die Verweigerung der Realität allgemein bestimmend ist, zeigt sich auch am hilflosen Umgang mit dem Flüchtlingsproblem: Man diskutiert über die Bekämpfung der Schlepper und über sinnlose EU-Regeln, statt sich aktiv um die Unterbringung, Schulung und Beschäftigung der Menschen zu bemühen.

Die Methode "Kopf in den Sand stecken" gehört in die Kategorie "ganz normales menschliches Verhalten". Das kann man der Europäischen Zentralbank nicht attestieren: Dort jammert man über den niedrigen Ölpreis, also über die einzig spürbare Erleichterung in einem Umfeld von steigenden Preisen und Steuererhöhungen.

Das hat eine skurrile Ursachenkette: Ein stärkeres Wirtschaftswachstum würde sich an einer stärkeren Inflation ablesen lassen, der niedrige Ölpreis sorgt aber für eine geringe Preissteigerung, also kann man den vielleicht doch oder doch nicht gegebenen Aufschwung nicht an der Preisentwicklung erkennen.

Man darf die Sorgen der Zentralbanker im Frankfurter Elfenbeinturm nicht belächeln: Nur bei einem höheren Preisanstieg würden die Zentralbanker die Nullzinspolitik beenden, die längst vor allem schadet und nicht nützt.

Also nehmen wir alle einfach nichts zur Kenntnis und singen frohgemut: "Ich red' mir ein, es geht mir gut!"