Den Gedanken aus "Google, der Regen und die Vorratsdatenspeicherung", meinte Kollege Viktor Hermann vergangene Woche, "könnte man noch weitertreiben: Politikern, die uns ACTA oder die Vorratsdatenspeicherung zumuten, könne man zumindest mit der Abwahl drohen. Bei den Unternehmen tut man sich schon schwerer". Ein spannender Gedanke. Und tatsächlich zeigt die jüngste Geschichte, dass massiver Bürgerprotest zumindest zur Aussetzung der Ratifizierung von ACTA geführt hat. Chapeau für das Gespür der Politiker. Chapeau für die rühmliche Ausnahme.
Oder trieb doch wieder jemand unsere Politiker vor sich her? Für Österreich muss man feststellen, dass ACTA schon Wochen vor den Protesten beschlossen war. In einem letzten Aufbäumen - nachdem schon alles vorbei war - entschlossen sich ein paar Abgeordnete noch, darauf hinzuweisen, dass sie ja eh schon immer dagegen seien. Und dann war die Sache wieder vom Tisch. Zu rasch übersah man die Machtlosigkeit im eigenen Land, weil sich die Blicke nach Deutschland richteten. Dort nutzte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Bundesministerin für Justiz, die Gunst der Stunde und verweigerte ihre Unterschrift unter das Abkommen. Erstaunen, Schelte, Applaus.
Doch handelte Leutheusser-Schnarrenberger aus dem freiheitlichen Grundgedanken, der sich in der FDP bisher nur in der Vertretung für die Besseren der Gesellschaft niederschlug? Ich glaube nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass sie sich eher von der politischen Konkurrenz wie der geschäftsführenden Piratin Marina Weisband (Bild auf der Titelseite) in die Flucht nach vorn drängen ließ. Denn die Piraten drohen derzeit das sinkende Schiff der FDP mit dem Ruf nach Transparenz und freien Downloads endgültig zu entern und unter ihre orange Flagge zu bringen. Kritiker sehen in den Piraten zwar nur ein neues "Betriebssystem" für Politik ohne jegliche Inhalte, dennoch scheint es, stehen die Piraten für die Bedürfnisse von immer mehr - vor allem jungen - Menschen: für das Bedürfnis nach transparenten Entscheidungsprozessen. Was dabei entschieden wird, ist offenbar für viele von geringerer Bedeutung als der Prozess, der zur Entscheidung führt.
Ist eine Stimme für die Piraten also nichts als Resignation vor einer ohnehin undurchschaubaren Realität? Resignation vor einer Wirklichkeit, die uns längst über den Kopf gewachsen ist, vor Problemen, für die traditionelle Politik kaum Lösungen anbieten kann - was vor allem junge, in Gesellschaft und Beruf noch nicht etablierte Menschen merken. Resignation vor den mächtigen Unternehmen, neben denen Politikern nur mehr jene Statistenrolle zukommt, die entscheiden kann, wer zwei Krumen mehr vom Kuchen zu bekommen hat. Und ist die von der Politik geforderte Transparenz nur mehr der Ruf nach einer Kontrolle, die nachsieht, ob sich die ohnmächtigen Politiker jene beiden Krumen nicht selbst in den Rachen stopfen? Resignation, weil unsere Abstimmungen längst an den Ladentheken der Welt passieren; weil längst unser Lebens- und Konsumstil Ersatz für die wahren Parteien ist? Und weil unsere Regierungen Apple, Facebook, Amazon, Google und Microsoft heißen? Konzern-Regierungen, die wir mit dem Erwerb ihrer Produkte und der Nutzung ihrer Dienste wählen und denen wir uns mit dem Akzeptieren der allgemeinen Geschäftsbedingungen ausliefern.
Alles nicht so schlimm, heißt es aus deren Reihen. Transparenz sei auch hier vorhanden. Der User-Wille geschehe - ganz individuell. Man müsse lediglich ein paar Einstellungen in dem Menü hier, oder doch da, ändern ... Und überhaupt brauche man das Produkt oder den Dienst nicht zu nutzen, wenn man mit den Gepflogenheiten nicht einverstanden sei. Japs. Was bleibt einem anderes übrig? Da kommt ein Gefühl der Ohnmacht auf. Es ist ein zu enges Korsett, in dem wir uns zu bewegen versuchen. Riechsalz, bitte - und dann zum Befreiungsschlag ansetzen. "Nachbarin, euer Fläschchen!" Doch Riechsalz ist nicht zur Hand. Man könnte jetzt bei Amazon welches bestellen, oder nach der Zusammensetzung googeln oder über Facebook Freunde fragen, jemanden am Handy anrufen, ... alles nicht mehr opportun im Kampf gegen die Mächtigen. Offenbar ist es tatsächlich einfacher, Politiker abzuwählen, als den Großkonzernen zu entkommen.
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Thomas Hofbauer ist Leiter der Online-Redaktion der "Salzburger Nachrichten".


