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Wann werden wir endlich wieder begreifen?

Wann haben Sie zum letzten Mal ohne Automatik ein Foto geschossen? Ihr Auto mit quietschenden Reifen angefahren oder gebremst? Eine Langspielplatte abgespielt? Oder ohne Navi zu Ihrem Urlaubsort gefunden?

Thomas Hofbauer
Wann werden wir endlich wieder begreifen?
Wann werden wir endlich wieder begreifen?


Die Digitalisierung gibt uns viel. Sie macht Musik, Bücher, Video und Bilder überall verfügbar. Sie hilft uns als ABS und ESP in schwierigen Fahrsituationen und leitet uns effizient zu unserem Reiseziel. Sie ermöglicht uns, mit Menschen in Kontakt zu bleiben und ihnen Geschichten in Wort und Bild zu erzählen, obwohl sie Tausende Kilometer entfernt sind.

Die Digitalisierung nimmt uns aber auch einiges. Beklagten in den 80er-Jahren noch Hi-Fi-Puristen die unzureichende Qualität der Compact Disc (Was sagen die Puristen heute zu den noch viel schlechteren mp3-Files?), so ist heute eine schleichende Abkoppelung von der Realität in vielen Bereichen zu beobachten. Diese Abkoppelung bettet uns in Watte und trennt uns immer mehr von unserer Umwelt. Überall wird gemessen, digitalisiert, verarbeitet, verrechnet und geregelt: im Auto, beim Fotografieren, beim Kochen. Überall zwängt sich unauffällig ein Steuergerät mit Sensoren und Stellmotoren dazwischen und gaukelt uns eine Realität vor, die so nicht existiert, hindert uns am Begreifen einer Situation.

Egal ob wir zu schnell in eine Kurve fahren, gegen die Sonne fotografieren, zu viel Waschmittel in die Maschine geben - irgendein Steuergerät hat schon vorher den Fuß vom Gas genommen, die Blende und die Verschlusszeit korrigiert und mehr Wasser zugeführt, um Schaumbildung zu vermeiden. Wir tun und machen und dabei werden wir immer mehr zu Dilettanten, die ohne kleine Helferlein den Alltag nicht mehr bewältigen könnten.

Dazu kommt noch der Betrug, den andere an uns begehen: Playback, denn man kann ja nicht gut singen und dabei gleichzeitig toll ausschauen. Retusche auf Werbeplakaten, denn so perfekt ist die Welt nun wirklich nicht. Wir bewundern operierte Stars, eifern dem Gebrutzel von Starköchen im Fernsehen nach ("Ich hab da schon was vorbereitet."). Andererseits akzeptieren wir das wenig Perfekte aber auch nicht mehr: Politiker mit einem Durchhänger, schlecht frisiert, ungeschminkt sind einfach undenkbar. Zehn Sekunden Sendepause führt zu nervösem Drücken auf der Fernbedienung.

Wir selbst kommen dabei immer mehr ins Dilemma, denn einerseits kennen wir noch manche unserer eigenen Unzulänglichkeiten, andererseits können wir sie auch immer weniger bei uns selbst akzeptieren. So hellt der Fotograf bei so manchem Schulfoto automatisch Zähne auf und retuschiert Pickel so aggressiv weg, dass auch das feine Muster auf dem T-Shirt und die kecken Sommersprossen gleich mit entfernt werden. Moderne Fotoapparate machen erst dann klick, wenn alle auf dem Bild lächeln, und Apps zum Aufzeichnen von Gesang haben eine automatische Korrektur eingebaut, die stimmliche Defizite ausgleicht.

So werden wir immer perfekter und sind es doch nicht. Viele von uns können weder ohne Maggi, Knorr oder Iglo kochen, noch in schwierigen Fahrsituationen ein Auto beherrschen. Kein Wunder also, dass sich Gegenbewegungen bilden. Egal ob es die neue Lust am Landleben ist oder die Piraten in der Politik, sie alle stehen für eines: Autopiloten abschalten, gewohnte Pfade verlassen, Latzhose anziehen und sich auf die Suche nach dem Echten oder zumindest nach dem Anderen machen. Also: Nutzen Sie die Gelegenheiten, in denen Sie das Leben noch voll be-greifen können und wenn Sie eine finden, dann packen Sie zu!

Zum Autor
Thomas Hofbauer ist Leiter der Online-Redaktion der "Salzburger Nachrichten".

thomas.hofbauer@salzburg.com