Ab sofort grassiert das Olympiafieber. Zudem wird ein Ding immer populärer, das es offiziell nicht gibt: der Medaillenspiegel als
Auflistung der Gold-, Silber- und Bronzegewinner nach Nationen. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat diese Statistik vor langer Zeit in weiser Voraussicht verboten. Das
war ehrenwert und naiv zugleich.
Natürlich werden die schönen Ziele internationaler Spiele ad absurdum geführt, wenn statt Friedensgedanke und Völkerverständigung ein Sporterfolg zum Triumph über Athleten eines anderen Landes uminterpretiert wird. Das freilich erledigen Medien und Politik in Tateinheit. Es gibt kein globales Fernsehen und nicht einmal EU-ropäische Zeitungen. Diese sind national organisiert, also haben oft zwischen den Zeilen unsere Guten gegen die bösen anderen gewonnen.
London als Veranstalter ist nur vordergründig unverdächtig, weil vor vier Jahren Pekings Kommunisten mit der Volksrepublik auf dem ersten Platz eine schlimme Nationalshow abzogen. Doch als Britanniens Hauptstadt 1908 für Rom einsprang, war die Chance zur nationalen Inszenierung allzu verlockend.
Die Eröffnungsfeier endete im Eklat: Alle Nationen senkten im Vorbeigehen die Fahne zu Ehren König Edwards VII. Nur die US-Amerikaner proklamierten, dass sie ihr Banner sicher vor keinem weltlichen Herrscher beugen. Alle Olympiasieger erhielten im Gegenzug ein Eichenlaub, das in den britischen "Union Jack" eingewickelt war. In New York konterte man, indem ein gefesselter Stofflöwe namens Albion - ein dichterischer Begriff für England - durch das Rathaus der Stadt geführt wurde.
Die englische Seele kochte und im 400-Meter-Lauf versuchten heimische Kampfrichter, einen Ami-Läufer gewaltsam aufzuhalten. Die Rennwiederholung gewann der Brite Wyndham Halswelle als damals vierter Finalist im Spaziergangtempo. Er war einer von 56 britischen Siegern und trug zum Gewinn des gestifteten Pallas-Athene-Pokals für das erfolgreichste Land bei.
Mit der Göttin der Weisheit hatte das wenig zu tun. Auch im Marathon wollte das Publikum jedweden Sieger, nur niemand aus den USA. Also trug man den total erschöpften Italiener Petri Dorado einfach ins Ziel, damit John J. Hayes ihn nicht einholte. Zu den sportlichen Skurrilitäten kamen nationale Grenzfälle, weil Kanada und Südafrika - politisch zum britischen Königreich gehörend - mit einer eigenen Mannschaft antraten.
Die Gegenidee eines "British Empire Team" für die Spiele 1916 in Berlin scheiterte nur, weil diese infolge des Ersten Weltkriegs nicht stattfanden. Dafür rechneten die Nazis in ihrer Propagandaolympiade 1936 Medaillen für Kunst und Kultur in die Nationenwertung mit ein. Fortsetzung folgt.