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Am Grab des Vaters eines Freundes

Über ein Begräbnis mit einer Zeile aus einem Song der Cranberries und einem Sushi zum Glück am Geburtstag.

Der Vater eines Freundes ist gestorben. Über ein "Grüß Gott", wie man sich das beim Aneinander-Vorbeigehen auf der Dorfstraße sagt, sind wir nie hinausgekommen. Brauchten wir auch nicht. Es reicht das Wissen um die Existenz, obwohl ich nicht sicher bin, dass er überhaupt von mir wusste. Er war alt, als ich das erste Mal von ihm hörte. Ich war erwachsen, als ich ihn das erste Mal sah. Es ist nicht mehr wie in der Pubertät. Da wollen die Eltern der Schulfreunde ja auch im Leben von deren Freunden ein Wörtchen mitzureden haben: Heimkommen, aufpassen, verhüten. Wenn man älter ist und neue Freunde findet, reicht es zu wissen, wer wer ist - oder ob es die Eltern überhaupt noch gibt. Mehr muss nicht sein. Ich weiß daher nicht viel von diesem Mann. Von ihm selbst weiß ich über ihn gar nichts. Ich kenne aber Geschichten, die andere über ihn erzählt haben. Alles aus zweiter Hand. Manche dieser Geschichten wurden mir ziemlich gleich lautend von unterschiedlichen Personen erzählt. Ich will sie glauben, auch wenn manche abenteuerlich unglaublich sind. Ich werde das Nur-Erzählte nicht mit dem Mann begraben. Es ist das einzige, das ich habe. Ich weiß nichts von seiner Vergangenheit, aber ich habe die Geschichten. Das ist wie im Song "Jubilee Street" von Nick Cave. "She had a history, but she had no past", singt er da. Ich habe, während ich wegen Nick Cave und wegen des Todes des Freundesvaters über das Vergessen und Vergehen nachdenke, und auch darüber, was bleiben wird, eine Mail bekommen. "In einer Welt, die von ständigen Innovationen geprägt ist, bleibt oft wenig Raum für die gezielte Beendigung bisheriger Prozesse und den Abschied von veralteten Produkten." So wird in der Mail ein neues Buch angepriesen. Man verspricht darin, dass man Tools und Modelle anbiete, für diese Abschiede. Dafür gibt es sogar ein Wort: "Exnovation". Das ist etwa, wenn der Kassettenrekorder durch den CD-Player und der dann durch die Streamingplattform ersetzt wird. Und wie ich dann überlege, ob ich mir noch eine alten Vinyl-Scheibe von Nick Cave auflegen soll, wird mir klar: Ich werde gar nicht so weit kommen, dieses Buch gezielt zu beenden. Es geht, wie ich dann lese, aber eh gar nicht um mich, sondern um Menschen im Management. Da geht es nicht um Menschen, sondern um Prozesse und Technologien. Der Abschied von einem Menschen gehört da nicht dazu. Und ich kann mir jetzt auch gar nicht die Zeit stehlen lassen, die es brauchen würde, um das Buch zu lesen. Ich muss nämlich auf das Begräbnis. Auf dem Weg dorthin werde ich nicht Nick Cave hören. Ich höre The Cranberries. "Ode To My Family" heißt der Song. Eine Zeile darin, die im Lauf des Lebens im Angesicht des Todes viel zu leicht verblasst, heißt: "Unhappiness, where's when I was young/And we didn't give a damn." Es ist nämlich so, dass irgendwann gar keine Zeit mehr für dieses schöne jugendliche Unglücklichsein bleibt. Es vergeht im Lauf des Lebens, weil man eben nicht mehr bloß "a damn" darauf gibt. Und am Grab des alten Mannes, eines Großvaters auch, denke ich an das Glück, wie Lolinger es formulierte. Beim Sushi zum Geburtstag, mit dem ihre Teenie-Zeit endet, sagt sie formulierte: "Was ich für ein Glück habe, dass ich immer noch alle vier Großeltern habe und sie mir was erzählen können." Die Geschichte(N) hat sie schon. Die Vergangenheit wird hoffentlich noch auf sich warten lassen.