An Würstlstandln herrscht Friede, weil üblicherweise zuerst das Fressen kommt. Für Moral muss der Hunger zu groß sein, wenn man sich von Debreziner, letscherter Semmel und unknackigen Gurkerln ernährt. Wenn ein Würstlstandler gerecht verteilt, nicht trödelt beim Ertränken der Käsekrainer im Senf und dem Enthaupten von Bierflaschen, bleibt das Gleichgewicht gewahrt. Dann kriegt jeder rechtzeitig, was er will. Wenn nicht, können sich unschöne Szenen abspielen. Jetzt glaubt nämlich die eine junge Frau, dass sie früher ans Standl getorkelt sei als die andere, die aber wurde zuerst bedient. Das regt auf und die Frau grunzt drohend: "I werd' mi glei' extrem radikalisieren." Die Angesprochene hätte sagen können, dass die Stänkerin doch gleich bei den Truppen des IS mitkämpfen könnte. Aus dem Irak und aus Syrien etwa ist ja zu hören, dass dort junge Menschen von hierzulande im Einsatz sind, die sich radikalisiert haben - und zwar extrem. Das wird oft gemeldet und gesendet und geschrieben. ". . . hat sich radikalisiert", heißt es dann. Das höre ich ratlos, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie das geht, dieses "sich radikalisieren". Ich habe einmal freiwillig und in Verkennung des künstlerischen Wertes ein Poster des Schockrockers Alice Cooper aufgehängt. Das hat mein familiäres Umfeld durchaus aufgeregt. In den 1970ern reichte ein peinlich Geschminkter für den Weltuntergang. So einfach geht's nicht mehr. Was also tut man da als junger Mensch? Mediensprache vermittelt den Eindruck, da stellt sich jemand vor den Spiegel mit einer ideologisch aufgeladenen Schrift, dem Album einer Nazirock-Band oder der Autogrammkarte eines Schlagerstars und schreit so lang das Spiegelbild an, bis das Donnern einer Kalaschnikow nach Schlaflied klingt. Oder internetzt man sich zum wahren Glauben an alles außer sich selbst? Sich radikalisieren! Der Duden macht auch nicht schlauer, weil dort im Zusammenhang mit "radikalisieren" nichts vom Reflexivpronomen "sich" steht. Das Gute am Würstlstandl knapp vor Sonnenaufgang ist allerdings, dass die politische und philosophische Tiefe der Gespräche einer Ebbe gleicht. Der Konter hatte dennoch Finesse: "Du kannst ,radikalisieren‘ ja ned amoi buchstabiern!" Die Kontrahentin hatte keine Zeit, das Gegenteil zu beweisen. Sie war - radikal erfolglos - damit beschäftigt, Bier und Senf von ihrer Bluse zu wischen.
Die Radikalisierung am Würstlstand
Zuletzt hieß es häufig, dass junge Menschen sich radikalisieren würden. Was, wenn das überhaupt geht, sollten sie denn sonst tun?

