Vom Saminger Hans hieß es, er sei nicht ganz dicht. So haben's mir die Leute erzählt, als ich auf der Durchreise bei einem Bier und gerösteten Knödeln fragte, was es bei ihnen im Dorf Besonderes gäbe. Ich lernte den Saminger Hans nie kennen. Ich hab nur von ihm gehört. Es wurde erzählt, er sei immer wieder einmal vom Dach eines Stadels auf dem Nachbarhof gesprungen. Und deshalb war er im Dorf eine Art Attraktion, das regional bekannte und beliebte Depperl zwar, aber eben auch ein Star. Eine Definition von Star kann ja sein: Da traut sich einer was, das sich sonst keiner traut, egal wie verrückt das auch sein mag, egal, ob's was bringt. Ganz ohne Anstrengung gedanklicher Natur, ganz ohne Geld. Wenn er dazu auch noch dem Himmel näher kommt als wir anderen, wir herkömmlichen Erdlinge, erweist sich die Bezeichnung "Star" ja gleich in zweifacher Hinsicht als ideal gewählt. Und - "I swear by the moon and the stars in the sky" - vom Saminger Hans gibt es nur Aufregendes zu berichten, nichts Fragwürdiges, keine politischen Verbalverirrungen. Seine Hüpferei muss irgendwann in den 70ern das Dorf in Aufregung versetzt haben. Da wirkte vielleicht die erste Mondlandung noch nach: Erobern unbekannter Welt. Und des Saminger Hans' Mondoberfläche war der Misthaufen vor dem Stadl. Der Saminger Hans soll im Wirtshaus seines hinterbayerischen Heimatdorfes auch immer davon erzählt haben, wie er sich vor seinen Stadlflügen mit Neil Armstrong - oder war's Charles Lindbergh - ausgetauscht habe, wie er sie um Rat fragte, wo er am besten wegspringen solle, wie er landen solle, was da alles passieren könnte. Wo er die wahren Helden der Luftfahrt und Allreisen getroffen hat, hat er auch nach dem sechsten Bier keinem verraten. Aber wahrscheinlich traf der Saminger Hans sie in seinem Kopf, den die anderen im Dorf wahlweise für eine Leerstelle, ein Chaos oder ein Deppenland hielten. Das war die Zeit, als es noch Dorfdeppen gab. Das darf man so heute nicht mehr sagen. Weil der Depp ist aus Gründen der politischen Korrektheit, die jeden Irrsinn relativiert, abgeschafft. Und auch wenn man sie nicht mehr so nennt, sie sind freilich nicht verschwunden. Im Gegenteil. Die Depperei hat längst das Dorf verlassen, es quasi geöffnet. Zum Teil lebt etwa die Social-Media-Welt bestens von der Globalisierung dieses Dorfdeppentums. Das Dorf ist dann nicht mehr als eine Lebenseinheit zu deuten. Das Dorf erweist sich dann als eine auf die kleinstmögliche Interessengemeinschaft beschränkte Welt. Wer dann etwa #stadlsprung folgt, bekommt gar nicht mit, wo sich andere herunterhauen. Wenn früher einer von einem Hausdach gesprungen ist, war er ein schöner Depp. Heute kann er Worldwide-Phänomen werden. Womöglich geehrt, dann werden Plätze nach Influencern benannt und nach der Menge der
Likes beim letzten Insta-Post. Wahre Dorfdeppen bekommen nur eine blöde Nachrede. Dabei wäre es konsequent, dass man nach dem Saminger Hans, politisch unverdächtig, gesellschaftlich integriert, zum Beispiel eine Straße benennen könnte. Aber wo der Hans sprang, hießen alle Straßen nur "Dorf".
Wie der Saminger Hans vom Himmel hüpfte
Über das Ende der Dorfdeppen.
