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Wo das selbstbestimmte Leben endet

Selbstbestimmung hat unweigerlich mit Leben zu tun. Der Tod löscht sie aus. Eine völlig autonome Entscheidung zum Selbstmord kann es nicht geben. Wie ein Mensch mit Behinderung die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs betrachtet, die Beihilfe zum Suizid straffrei zu stellen.

Franz-Josef Huainigg
Vom Suizidwunsch zur Suizidtat ist es ein weiter Weg. Für diesen weiten Weg gibt es jetzt eine verdammt leichte Abkürzung.
Vom Suizidwunsch zur Suizidtat ist es ein weiter Weg. Für diesen weiten Weg gibt es jetzt eine verdammt leichte Abkürzung.
<Schriftwechsel14>Franz-Joseph </Schriftwechsel14><Schriftwechsel14>Huainigg ist Autor, ehemaliger Abgeordneter zum Nationalrat und Mitglied der Selbstbestimmt Leben Bewegung.</Schriftwechsel14>
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Freitagabend, ich sitze am Computer und lausche dem Verfassungsgerichtshofpräsidenten Christoph Grabenwarter, der bekannt gibt, dass Beihilfe zum Suizid straffrei gestellt werden soll, die Tötung auf Verlangen bleibt aber verboten. Mein Telefon klingelt ununterbrochen, SMS werden geschickt. Was hat das für uns Menschen mit Behinderungen zu bedeuten? Ein Freund mit Behinderung schreibt mir: "Das ist aber arg, macht nicht wirklich Mut, sein Schicksal annehmen zu können". Der gute österreichische Weg - Sterbebegleitung durch Palliativmedizin und Hospiz statt Sterbehilfe - scheint mit einem Schlag verlassen zu werden. Mir bleibt buchstäblich die Luft weg. Zum Glück reagiert meine Beatmungsmaschine.

In seinem Erkenntnis schließt sich der VfGH ganz offensichtlich dem allgemeinen Mainstream der Autonomie und Selbstbestimmung als höchste Werte an. Eine völlig autonome Entscheidung, ohne Einfluss von außen oder eines Dritten, wie es der VfGH für die Entscheidung für die Beihilfe zum Suizid fordert, kann es aber in Wirklichkeit nicht geben, denn ein Beschluss, das eigene Leben aktiv zu beenden, erfolgt immer in Beziehung zu anderen und kann daher nie völlig autonom erfolgen. Durch die Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und das strafrechtliche Verbot der eigenmächtigen Heilbehandlung (das im Übrigen viele andere Länder nicht kennen) gibt es in Österreich hervorragende Möglichkeiten, am zu Ende gehenden Leben selbst Entscheidungen zu treffen, Schmerzen fast vollständig zu vermeiden und medizinisch und psychosozial begleitet aus dem Leben zu scheiden. Es macht einen großen Unterschied, ob man stirbt, weil aller unser Leben einmal zu Ende geht oder ob der Tod durch ein Gift bewusst und zum Termin herbeigeführt wird. Ich bin wirklich völlig fassungslos, dass bei der mündlichen Verkündung argumentiert wurde, dass es hier in Bezug auf die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung keinen Unterschied geben würde. Es gibt Menschen, die nach Ablehnung der Chemotherapie noch Monate leben und weiterhin ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben. Im anderen Fall ist der Mensch irreversibel tot. Bei der Beihilfe zum Suizid wird die Selbstbestimmung in Wahrheit ins Gegenteil verkehrt. Selbstbestimmung hat unweigerlich mit Leben zu tun, der Tod löscht sie aus. Auch wenn es viele Menschen gibt, die ihr Leben nicht mehr als Geschenk wahrnehmen können, ist es doch so, dass wir nichts anderes haben.

Wie eine Patientenverfügung funktioniert, habe ich auch selbst erfahren. Bei einer großen Gesundheitskrise 2006 bekam ich durch die aufsteigende Lähmung kaum Luft, war durch die Schluckbeschwerden abgemagert und konnte, so schwach wie ich war, kaum noch sprechen. Unter feinfühliger ärztlicher Begleitung habe ich in der Patientenverfügung festgelegt, dass ich die medizinischen Möglichkeiten der Beatmung und künstlichen Ernährung nutzen möchte. Alle diese medizinischen Eingriffe hätte ich in der Patientenverfügung auch ablehnen können und man hätte mir ein Sterben ohne Erstickungsängste und Schmerzen zugesagt. Heute weiß ich, dass meine damalige Entscheidung goldrichtig war. Ich gestehe, vor 20 Jahren hätte ich mir ein Leben, so wie ich es jetzt führe, schwer vorstellen können. Wenn ich mich heute selbst im Fernsehen sehe, erschrecke ich immer wieder. Puh, so behindert! Ich sehe jemanden, der weder Arme noch Beine bewegen kann, von einer Assistentin im Rollstuhl fortbewegt wird und an einem Beatmungsschlauch hängt. Da verstehe ich auch Menschen, die zu mir sagen: "Mit dieser Behinderung wollte ich nicht leben!" Aber glauben Sie mir: Meine Innensicht ist anders. Ich lebe ein selbstbestimmtes Leben durch die Unterstützung Persönlicher AssistentInnen, habe eine Familie, einen herausfordernden Job und führe ein zufriedenes Leben. Mein Beatmungsgerät nehme ich im Alltag oft gar nicht mehr wahr.

Das Erkenntnis des VfGH ist in vielen Punkten ausgesprochen differenziert. Man sieht das Ringen der RichterInnen, die vielen Einflussfaktoren auf die Selbstbestimmung möglichst umfassend anzuführen und sie sind sich offenbar bewusst, wie groß die Missbrauchsgefahr hier ist. Das ist grundsätzlich gut. Jedoch wurden die Situation und die Erfahrungen aus anderen Ländern, wo die Beihilfe zum Suizid bereits eingeführt worden ist, nicht berücksichtigt. Das ist ein großes Versäumnis; denn in allen Ländern zeigt sich, dass Missbrauch nicht zu verhindern ist und dass, wenn die Türe auch nur einen Spalt geöffnet wird, sich auch die Büchse der Pandora öffnet. Das wird auch in Österreich so sein, denn der VfGH lässt nur einen Maßstab zu, der Entschluss Beihilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen muss selbstbestimmt und dauerhaft vorliegen. Jeder Differenzierung zwischen terminaler Lebensphase oder nur lebensmüde ist damit die Grundlage entzogen! Seit 1998 verzeichnet die Schweiz einen stetigen Anstieg assistierter Suizide von Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. Die Zahlen haben sich in den Jahren 2009 bis 2014 mehr als verdoppelt, bei in etwa gleichbleibender Zahl "normaler" Suizide. Zudem weiß man aus der Suizidforschung, dass es vom Suizidwunsch - auch wenn er wiederkommt - zur Suizidtat ein weiter Weg ist. Nicht wenige Suizidversuche waren von den Betroffenen so angelegt, dass sie überleben. Für diesen weiten Weg gibt es jetzt eine verdammt leichte Abkürzung. Und die Befürworter der Beihilfe zum Suizid haben die wesentlich besseren Karten in der Hand. Wo kein Kläger, da kein Richter! Tote Menschen klagen nicht.

Der Wunsch zu sterben ist in Wahrheit ein Hilferuf

In den Niederlanden wurde aus der Beihilfe zum Suizid sehr rasch Töten auf Verlangen. Zunächst angewandt für Ausnahmefälle, ist er jetzt bereits zum allgemeinen Regelfall geworden: 14 Prozent (!) aller Todesfälle beruhen auf assistiertem Suizid. Assistierter Suizid wird sogar bei Minderjährigen und bei Personen mit Demenz durchgeführt, wo die hochgepriesene Autonomie mehr als fraglich ist. Auch die Argumentation der Suizidenten in den Niederlanden muss ein Warnsignal an die österreichische Politik sein: 56 Prozent der Menschen nennen Einsamkeit als einen Grund, 42 Prozent das Gefühl, eine Last zu sein, und 36 Prozent Geldmangel. Der Wunsch zu sterben ist in Wahrheit immer ein Hilferuf, wie es die Zahlen der Niederlande verdeutlichen. Der Sterbewunsch hängt meistens mit Perspektivlosigkeit, Schmerzen und Einsamkeit zusammen und muss daher als Hilferuf für eine Verbesserung der Lebenssituation verstanden werden, auf den wir anders reagieren müssen: mit Zuneigung, Trost und Nächstenliebe, sowie mit Palliativmedizin, Hospiz und psychosozialen Angeboten.

Wer wie ich pflegebedürftig und immer auf die Unterstützung und Hilfe anderer Menschen angewiesen ist, braucht schon ein hohes Selbstwertgefühl, um die notwendigen Hilfeleistungen, Unterstützungen und Assistenzleistungen anzunehmen. Durch die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid entsteht natürlich ein Druck auf Menschen mit Behinderungen. Überall zeigt sich, dass die als Ausnahme gedachte Beihilfe zum Suizid mit der Begründung des Rechts auf Selbstbestimmung dazu geführt hat, dass sich insbesondere behinderte Menschen dafür rechtfertigen müssen, dass sie weiterleben wollen, obwohl sie anderen "so sehr zur Last fallen".

Wie sehr der Sterbewunsch von äußeren Umständen abhängt, wurde mir durch den Austausch mit einem Polen vor Augen geführt. Seit seinem Unfall kämpfte Janusz Switaj, der beatmet wird, für ein Euthanasiegesetz. Das berührte mich sehr. Ich schrieb ihm eine Mail: "Was muss passieren, damit du wieder leben möchtest?" Er antwortete tatsächlich: "Ich liege seit 10 Jahren Zuhause im Bett und werde von meinen Eltern gepflegt. Den ganzen Tag starre ich die Decke an. Ich habe drei Wünsche: Ein mobiles Beatmungsgerät, damit ich aus dem Bett in den Rollstuhl komme, eine Persönliche Assistenz, damit ich selbstbestimmt leben kann und einen Job, damit ich eine Aufgabe habe." Drei Jahre später erfuhr ich, dass sich all seine Wünsche erfüllt haben. Eine polnische Schauspielerin und Stiftungsgründerin nahm sich seiner an. Dadurch konnte er zu studieren beginnen und bei der Stiftung als Berater für Menschen in Lebenskrisen arbeiten. Damit verhalf er anderen zu Lebensperspektiven, die er selbst wiedergefunden hatte.

Eine Klägerin mit Multipler Sklerose argumentierte in ihrer Anklageschrift an den VfGH, dass die Möglichkeit der Beihilfe zum Suizid ihr Leben verlängern würde. Denn jetzt ist sie noch in der Lage, ganz alleine in die Schweiz zu fahren, später mit steigender Behinderung wäre sie jedoch auf fremde Hilfe angewiesen. Durch die Straffreistellung der Beihilfe zum Suizid in Österreich hätte sie mehr Zeit gewonnen, um später ihr Giftgetränk selbst einnehmen zu können. Dieses Argument, dass die Beihilfe zum Suizid lebensverlängernd wirkt, ist jedoch zynisch und in Folge kann man sich mit dem gleichen Argument für eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe an den Verfassungsgerichtshof wenden. Denn wenn sie nicht mehr in der Lage ist, den Becher selbst zum Mund zu führen, würde es ihr Leben noch weiter verlängern, wenn es die Möglichkeit auf Tötung auf Verlangen gäbe. Mit weiteren Verfassungsklagen ist zu rechnen.

Sehr ausführlich stellt der VfGH dar, wie groß und vielfältig der Einfluss Dritter auf die Selbstbestimmung des Menschen ist. Er benennt nicht nur familiäre und soziale Einflüsse, er erwähnt auch die Hilfsbedürftigkeit, den eingeschränkten Bewegungsspielraum und sogar die ökonomischen Umstände. Und das mit gutem Grund; denn Auswertungen in den Niederlanden haben gezeigt, dass mehr als ein Drittel mit ihrer ökonomischen Situation die Inanspruchnahme der Sterbehilfe begründen. Der Gesetzgeber habe daher Maßnahmen zur Verhinderung von "Missbrauch vorzusehen, damit die betroffenen Personen ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fassen." Und dann führt er weiter aus: "Es sind daher gesetzgeberische und sonstige staatliche Maßnahmen erforderlich, um den Unterschieden in den Lebensbedingungen der Betroffenen entgegen zu wirken und Allen palliativmedizinische Versorgung zu ermöglichen". Das ist eine Herkulesaufgabe!

Die Beihilfe zum Suizid darf sich nicht zu einem Geschäft entwickeln

Jetzt ist die Politik gefordert:


1. Die Beihilfe zum Suizid darf keinesfalls von ÄrztInnen durchgeführt werden. Das wäre eine fatale Vermischung der Rolle und Aufgabe des Arztes/der Ärztin zur Lebenserhaltung und zur Achtung des hippokratischen Eides. Aufgabe der ÄrztInnen wird es sein, entsprechende Gutachten (Situation bei Schmerzen, Psyche, etc.) zu erstellen.
2. Die Beihilfe zum Suizid darf sich nicht zu einem Geschäft entwickeln. Das heißt, eine Behörde muss das Verfahren leiten, durch welches der dauerhafte und freie Wille, Beihilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen, geprüft und dann auch behördlich festgestellt wird.
3. Es wird auch die Kompetenz von SozialarbeiterInnen benötigen, um festzustellen, ob allenfalls prekäre Lebensverhältnisse ursächlich für den Sterbewunsch sind. Bei behinderten Menschen müssen BehindertenpädagogIinnen prüfen, ob der Sterbewunsch nicht den Lebensverhältnissen geschuldet ist. Besonders heikel ist die Situation bei demenzerkrankten Menschen. Hier wird man sich allenfalls auch die Tagesgestaltung in den Altenheimen ansehen müssen, oder die Einsamkeit zu Hause.
4. Die Suizidprävention muss ausgebaut und damit zusammenhängend die Psychiatrie insgesamt umfassend reformiert werden.
5. Nicht zuletzt müssen Palliativmedizin und Hospizversorgung nach den Plänen des Dachverbandes Hospiz flächendeckend ausgebaut werden, um den österreichischen Weg der Sterbebegleitung einen eindeutigen und klaren Vorrang zu geben.

Seit ich als Kind erkannt habe, dass ich behindert bin, kämpfe ich für meine Selbstbestimmung im Leben und fürs Leben. Mit meiner Lebenserfahrung und meinen Vorstellungen zur Selbstbestimmung hat die Beihilfe zum Suizid nichts mehr zu tun!

Zur Person: Franz-Joseph Huainigg ist Autor, ehemaliger Abgeordneter zum Nationalrat und Mitglied der Selbstbestimmt Leben Bewegung.