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Die EU steht nicht nur wegen der Flüchtlinge vor einer Existenzfrage

Die Flüchtlingskrise fordert Europa heraus. Aber für die Zukunft entscheidend ist, wie die EU damit umgeht, was Großbritannien fordert.

Marianne Kager

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel soll am Flüchtlingsgipfel vor zehn Tagen gesagt haben, die Flüchtlingskrise sei zu einer Existenzfrage für die EU geworden. Ob sie das tatsächlich so gesagt hat, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass die EU sich die Frage stellen muss, inwieweit die von ihr in den Verträgen festgelegten Prinzipien von den Mitgliedsstaaten ernst genommen werden. Wie halten die es mit der Solidar- und Wertegemeinschaft, wie mit der programmatischen Erklärung einer immer "enger werdenden" Union?

Für die Frage, welche EU die Mitgliedsstaaten letztlich wollen, kann das Verhalten in der Flüchtlingskrise ein Signal sein. Entscheidend wird aber sein, wie die EU und ihre Mitgliedsstaaten mit der Drohung Großbritanniens umgehen, ein Referendum über einen Austritt abzuhalten, wenn seine Forderungen nicht erfüllt werden. Sieht man sich die bekannten Forderungen der Regierung Cameron als Vorbedingung zur Absage des Referendums an, so sind die eine Mischung aus weiteren Sonderrechten, extrem starken Minderheitenrechten und eine Kampfansage an die Eurozone. Unter anderem wollen die Briten eine Ausnahme von jeglicher weiteren Vertiefung der Union, was der ex-post-Freistellung Großbritanniens von grundsätzlichen EU-Vertragsinhalten gleichkommt.

Darüber hinaus fordern sie, dass der Euro niemals die Währung der Union wird. Das heißt, eine EU-Vertragsänderung, in der die bestehende Verpflichtung der Mitgliedsstaaten mit Ausnahme Englands und Dänemarks aufgehoben wird, nach Vorliegen der ökonomischen Voraussetzungen dem Euro beizutreten.

Weiters will Großbritannien mehr Minderheitenrechte: Acht Mitgliedsstaaten, die mindestens 35,6 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, sollten auch für mit einer qualifizierten Mehrheit gefasste Ratsbeschlüsse aufschiebende Wirkung erzwingen können.

Für die Beschlüsse der europäischen Bankenaufsicht soll festgeschrieben werden, dass die neun Nichteuromitglieder von den 19 Mitgliedern der Währungsunion nicht überstimmt werden können. Eine Knebelung der Eurozone in Finanzfragen - es lebe die City of London!

Die Mitgliedsstaaten müssen sich im Klaren sein, dass die Einheit der Wirtschafts- und Währungsunion nachhaltig gefährdet wäre, würde man diesen Wünschen nachgeben. Abgesehen davon, dass sofort "Nachahmer des englischen Weges" vor der Tür stehen würden.

Welche Art von Gemeinschaft wollen die Mitgliedsstaaten in Zukunft? Die Briten wollen offenbar das Integrationsniveau zurückschrauben, quasi eine Zollunion und die garantierte Dominanz des Londoner Finanzplatzes. Doch das kann nicht Europas Antwort auf die Globalisierung sein. Um im globalen Wettbewerb zu bestehen und zu prosperieren, braucht Europa einen einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum. Der Preis dafür, so ehrlich muss man sein, ist weniger nationale Autonomie.