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Wo sind die Grundwerte geblieben?

Wo sind die Grundwerte geblieben?Statt mit Vetos zu drohen, sollten sich die Mitgliedsstaaten der EU wieder an die im EU-Vertrag verankerte Verpflichtung zur Zusammenarbeit und Solidarität erinnern.

Marianne Kager

Im Frühherbst durfte man noch hoffen, dass die EU wieder in ein ruhigeres Fahrwasser kommt. Mittlerweile wurden wir eines Besseren belehrt. Die Staatsschuldenkrise ist in so manchem Mitgliedsstaat noch lang nicht ausgestanden (siehe Griechenland, Spanien). Die EU ist in eine Rezession gerutscht, die Arbeitslosigkeit steigt, in manchen Ländern sind mehr als 50 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. Die sozialen Unruhen nehmen zu, und dazu kommt jetzt noch der Streit um das EU-Budget.

Es wäre an der Zeit, sich zu erinnern, dass Solidarität zwischen Mitgliedsstaaten zu den vertraglich verankerten Grundsätzen zählt. Schon in Artikel 3 des EU-Vertrags heißt es: ". . . fördert die EU den wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten".

Wenn man sich das Treiben so anschaut, muss man sich fragen, was aus diesem Grundsatz geworden ist. Da werden wichtige Entscheidungen verschoben, weil man sich nicht einigen kann - meist aus innenpolitischen Rücksichten wie Wahlen - und man den Wählern unangenehme Wahrheiten nicht zumuten will. Die Griechenland-Hilfspakete sind dafür ein Beispiel. Hätte man den Grundsatz befolgt, doppelt gibt, wer schnell gibt, wäre die Sanierung bedeutend billiger gekommen.

Und die aktuelle Budgetdebatte? Klar, jeder schaut auf seinen Geldbeutel; die Briten wollen den Rabatt behalten und gemeinsam mit den Deutschen mehr sparen. Die Franzosen wollen keine Änderung der Agrarpolitik; das wollen auch die Österreicher nicht und auch die wollen den Rabatt behalten. Sparen ist schon gut, und da gibt es genügend Möglichkeiten im EU-Budget. Von Milliarden an versickerten Agrar-, Regional-, Verkehrs- und Fischereisubventionen bis zum Wanderzirkus "Brüssel-Straßburg und retour" des Europaparlaments. Doch wo blieb in all den Jahren die Diskussion über Strukturreformen im EU-Budget? Die Agrarförderung verschlingt noch immer 40 Prozent des Budgets, ohne dass bisher irgendwelche Obergrenzen bei der Förderung eingezogen wurden. Das ist so, wie wenn multinationale Unternehmen im gleichen Umfang förderungswürdig wären wie Klein- und Mittelbetriebe. Wie ist das zu rechtfertigen? Sicher: Tausend Milliarden und mehr Budget sind für jedermann unvorstellbare Summen. Was meist nicht dazugesagt wird: das ist das EU-Budget für sieben Jahre, also rund 145 Mrd. Euro pro Jahr; absolut auch viel, relativ nicht mehr als ein Prozent der Wirtschaftsleistung der Staaten der Europäischen Union.
Und wie verhält es sich hier mit der Solidarität? Nehmen wir Österreich als Beispiel. Wir haben das fünfthöchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der EU; wir zählen zwar zu den elf Nettozahlern, aber mit 0,27 Prozent des BIP rangieren wir weit hinten auf Rang 10. Hingegen ist Italien mit 0,38 Prozent des BIP Spitzenreiter unter den Nettozahlern. Selbst Großbritannien liegt mit 0,32 Prozent vor Österreich. Pro Einwohner zahlt Dänemark mit 150 Euro am meisten ins EU-Budget ein, gefolgt von Luxemburg und Schweden. Hingegen zahlte jeder Österreicher 2011 netto 95 Euro für die EU. Ist das so viel, gemessen am zusätzlichen Wachstumsimpuls, den Österreich allein aus der EU-Osterweiterung zog? In einer solchen Position mit der Vetokeule zu drohen, ist unsolidarisch. Solcher Opportunismus tut weder uns noch Europa gut.