SN.AT / Kolumne / Notizen im Krieg / Notizen im Krieg

Drei Jahre Krieg in der Ukraine: Als die Illusion verloren ging, dass das Böse Grenzen hat

Je länger wir in der Ukraine die Realität ignorieren, desto mehr verlieren wir unsere Zukunft. Falls es diese Zukunft überhaupt gibt. Aber noch ist nicht alles verloren, oder?

Daryna Melashenko
Gedenken zum dritten Jahrestag des Kriegsbeginns in Kyjiw, der Hauptstadt der Ukraine.
Gedenken zum dritten Jahrestag des Kriegsbeginns in Kyjiw, der Hauptstadt der Ukraine.

Erinnern Sie sich an das letzte Mal, als Sie dachten: Morgen wird wie immer sein? Ein Morgen wie tausend davor. Ein Morgen mit Kaffee, Plänen, Routinen.

Es scheint, als wäre es gestern gewesen. Der Frühlingsabend kam unmerklich schnell, der Untersberg verschwand in der Dämmerung. Ich saß wieder bis spät in die Nacht über meinen Arbeitsdateien. Warf mir den Mantel über und stürzte hinaus in die klare, leichte Luft. "Bloß nicht den Bus verpassen, sonst müsste ich wieder quer durch ganz Salzburg nach Hause laufen. Bald wird es wärmer, Ostern steht vor der Tür. Ich werde Urlaub haben, zu meinen Eltern fliegen. Doch die Abendluft vibriert seltsam, mit einer leichten Unruhe. Aber die neuesten Nachrichten… Es wird nichts passieren. Ein paar Menschen werden krank werden, und dann ist alles vorbei. Oder?" Und dann kam der Morgen: "Die WHO hat offiziell erklärt: Covid-19 ist eine Pandemie." Und weiter: "Wie viele offiziell Infizierte gibt es bei euch?" "Erst drei, aber ich bin sicher, die tatsächliche Zahl ist hundertfach höher." Ich hatte Angst, nach draußen zu gehen, arbeitete viel in meiner Wohnung. Ich konnte nicht nach Hause zurückkehren: Es gab keine Flüge mehr. Die Grenzen waren geschlossen. Ich machte mir Sorgen um meine Familie. Je mehr Zeit verging, desto mehr Tote gab es. Die Welt lag in Ungewissheit.

Drei Jahre später erwischte mich der Februarabend wieder im Büro. Plötzlich bemerkte ich, dass draußen bereits die Laternen leuchten, die historische Kirche im Zentrum Kyjiws erhellend. Wie schön! Ich schloss das Video, das ich bearbeitet hatte, und stellte fest, dass ich allein geblieben war - alle anderen waren schon nach Hause gegangen. "Warum machen sie sich nur so viele Sorgen? Sie reden von nächtlichen Sabotageakten, von Wasservorräten, von unterbrochener Verbindung. Die russischen Truppen stehen an der Grenze, ja - aber sie werden sich zurückziehen.

Und dann: Explosion! Die erste Explosion, dann die zweite, die dritte und immer weiter… Der erste Morgen des Krieges, grau und düster. Ich hielt fast den Atem an, lauschend auf die Eilmeldungen. Dann begann ich, die Fenster abzukleben, meinen ersten Notfallrucksack zu packen, mich in Schutzräumen zu verstecken. Ich fuhr mit dem Evakuierungszug nach Lwiw, suchte Stabilität, verlor alte Freunde, frühere Gewissheiten. Mein früheres Ich. Ich suchte Neues, worauf ich mich stützen konnte. Wenigstens etwas. Die Tage wurden kürzer und gefüllt mit Luftalarmsirenen. Nächtliche Gespräche über Zukunftspläne endeten mit dem Satz: "Falls es überhaupt eine Zukunft gibt."

Drei weitere Jahre vergingen. Die Welt, in die ich einst hineingeboren wurde, gibt es nicht mehr. Genauer gesagt: Es gibt nicht mehr die Illusionen, die sie einst prägten. Die Illusion von Frieden - denn friedliche Morgen können in einem einzigen Augenblick enden. Vor drei Jahren hätte ich gesagt: Ein Krieg in Europa? Vielleicht nur in einem Albtraum.

Früher schlief ich ein mit Gedanken an das Frühstück, an Prüfungen, an Streit mit einer Freundin. Und ich schlief süß. Bis der Krieg ans Fenster klopfte. Und dann hat die Ukraine die Illusion verloren, dass das Böse Grenzen hat, dass es eine Linie gibt, die niemand überschreitet. Wir haben ganze Städte verloren, die sich in verkohlte Ruinen verwandelten. Hunderttausende Leben - getötet, verstümmelt, verschleppt in Folterkammern und Konzentrationslagern des 21. Jahrhunderts. Unzählige Worte, einst neutral, brennen nun mit Schmerz: "Irpin", "Mariupol", "Butscha", "Oleniwka". Niemand in der Ukraine wollte ein Held der Geschichte sein. Niemand will das. Aber das Leben fragt nicht. Und je länger wir die Realität ignorieren, desto mehr verlieren wir unsere Zukunft. Falls es diese Zukunft überhaupt gibt. Aber noch ist nicht alles verloren, oder? Seit drei Jahren weiß ich nicht, in welcher Welt ich morgen aufwache. Und Sie?
Daryna Melashenkoist 29 Jahre alt und floh von Bojarka bei Kiew nach Lemberg zu einem Freund. Sie ist Autorin und Übersetzerin.