Zu Hause sein heißt, jeden Menschen im Haus und jede Straße in der Stadt zu kennen. Das heißt, von strahlender Sicherheit und Klarheit umarmt zu werden. Zu Hause ist alles verständlich, alles üblich, alles in Ordnung. Als unser Wagen vor meinem Haus hält, empfinde ich nur einen Schatten dieses Gefühls. Das ersehnte Entspanntsein ist mir versagt.
Mein Zimmer, in dem ich die ersten Kriegstage ängstlich und verbissen Kriegsnachrichten übersetzte, heißt mich mit frischer Wäsche und duftigen Gartenblumen willkommen. Alte Erinnerungen werden wach und umgeben mich wie Gespenster. Schulbücher, Partys, Einfälle und Herzensbrüche. Hier konnte ich mir unterschiedlichste Sachen vorstellen: wundersame Fantasiewelten, glückliche Zukunftsvisionen, auch Albträume. Diesen Tag hätte ich mir niemals vorstellen können, trotz all der Vorahnungen.
Auf meinem Nachttisch liegt das Buch von Andreas Kapeller, "Ungleiche Brüder". Das Buch schnappte ich Anfang Jänner in einem Bookcrossing-Café. Es geht um die Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen, eine Geschichte der Ver- und Entflechtungen, bis hin zum im Sommer 2014 begonnenen russisch-ukrainischen Krieg, von dem Andreas Kapeller im neunten Kapitel spricht. Das Buch erschien 2017. Für den Autor, genauso wie für viele Ukrainer/-innen, war die vollumfängliche Eskalation wohl keine Überraschung.
Alle feierlichen Vorbereitungen für Ostern sind auch dieses Jahr gelungen. Das Haus ist aufgeräumt und verziert, alle Einkäufe gemacht, Ostereier gefärbt. Meine Mama will nur noch Paska (Ostergebäck) backen. Ihr Rezept ist ganz besonders. Eine Paska muss in feierlicher Ruhe gebacken werden: Es darf nicht einmal laut geredet werden. Der Teig hört alles. Ich darf fluffiges Eiweiß und duftigen Zitronenabrieb einkneten. Beim Kneten frage ich meine Mama beiläufig: "So, wann reist ihr ab?"
Sie zögert eine Weile und sagt seufzend: "Wir haben ja ein Frühbeet angelegt."
Zusätzlich zu allem, das meine Eltern schon an das Land bindet, schaffen sie nun noch weitere Beziehungen und Verknüpfungen. Jemand muss die neu angelegten Beete pflegen, auf die neu gepflanzten kleinen Bäume aufpassen, sich um den zwei Monate alten kleinen Welpen kümmern. Wenn Tomaten reif werden, muss Tomatensaft gequetscht und konserviert werden. Die vorletztes Jahr gepflanzten Marillenbäumchen erblühen und werden erste Früchte bringen - wie kann man das verpassen? Mein Vater bestellt eine neue Waschmaschine. Er sagt: "Ich nehme an, dass dieses Modell mindestens zehn Jahre ordentlich funktioniert." Meine Eltern haben große Pläne für die Zukunft und wollen mit dem Kriegshunger Russlands nicht rechnen.
Der ukrainische Sicherheitsdienst veröffentlicht weitere mitgehörte Telefongespräche der russischen Soldaten mit ihren Verwandten. In dem am Karsamstag veröffentlichten Gespräch erzählt ein Russe seiner Mutter: "Die Schützen kritzeln nun auf die Geschosse ,Christos woskres' (Christ ist auferstanden). Hauptsache, wir kriegen dann kein ,woistinu woskres' (wahrhaftig auferstanden) zurück. Wir haben so viel Spaß, wie es geht."
Daryna Melashenko ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen. Zum orthodoxen Osterfest ist sie heimgefahren.