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Und dann erklingt die ukrainische Nationalhymne im Einkaufszentrum

Auch hier in Lemberg wird es immer wärmer. Ich habe mir deshalb einen Frühlingsmantel gekauft. Als ich mir im Einkaufszentrum zu Essen hole, erklingt die ukrainische Hymne. Alle stehen still, legen die Hand aufs Herz, manche singen sogar mit. Auch ich.

Daryna Melashenko

Es wird warm. Ich habe mir endlich einen Frühlingsmantel gekauft. Wegen der kürzeren Öffnungszeiten, Luftsirenenalarme und meiner Abneigung gegen Kleidungseinkäufe hat es ein bisschen gedauert. Ich fühle mich in großen Einkaufszentren immer ein bisschen verloren.
So ist es auch diesmal. Es gibt viele Menschen in den Kleidungsgeschäften, sicher nicht alle davon sind aus Lemberg. Manche Flüchtlinge können es sich leisten, Kleidung zu kaufen und müssen nicht gebrauchte Stücke ausleihen. Das ist sehr gut, denke ich. Es gibt dann mehr für diejenigen, die in Not sind.
Als ich vor dem Spiegel in einem der Geschäfte stehe, spricht mich eine Frau an. Sie will sich eine "unabhängige Meinung" holen, ob der schwarze Lederrock und ihre weiße feingestickte Wyschywanka, eine traditionelle ukrainische Bluse, gut zusammenpassen. Ich nicke und füge hinzu: "Man merkt aber an Ihrer Körperhaltung, dass Sie ein bisschen verunsichert sind." - "Und das bin ich! Wissen Sie, wie viel jetzt ein Trauring kostet? Zehntausend Hrywnja (Anm. mehr als 300 Euro)! So eine Frechheit!"
Ich bezahle und gehe in die Halle. Dort gibt es einen Food-Court. Ich suche nach einem Tisch, um eine kleine Jause zu haben. Fast alle Tische sind besetzt. Ich teile meinen mit einer Frau, die beim Essen noch ein Geschäftsgespräch am Handy führt. Der Einkaufszentrum-Lautsprecher liefert laufend eine Mischung aus Nachrichten und Werbung.
Ein bisschen später ist etwas Besonderes zu hören. Es erklingt die ukrainische Hymne als eine Geste der Unterstützung für unsere Verteidiger. Plötzlich gibt es keine Bewegung mehr in der Halle. Die Besucher, die an den Tischen sitzen, stehen in einer ungleichmäßigen Welle auf. Viele legen sich die rechte Hand auf das Herz. Einige versuchen sogar, mitzusingen. Darunter auch ich.
Solche Gesten, solche Symbole wirken auf viele archaisch. Braucht man sie noch im 21. Jahrhundert? Ist das noch überhaupt eine gute Idee, von Nationen zu reden? Macht das auf solche Weise erweckte Zusammengehörigkeitsgefühl noch Sinn? Sind wir nicht alle einfach nur Menschen, die durch zusätzliche Identitäten nur geteilt werden? Solche Rhetorik hörte ich einmal in Österreich. In diesem Land, das mich und meine Kultur sehr freundlich willkommen hieß, war ich damals für das Singen meiner Hymne ausgelacht. 2020 war ich von diesem Spott benommen. Ich wusste nicht, wie ich antworten soll.
Heute habe ich eine Antwort. Ich glaube aber, dass sie für viele Menschen selbstverständlich ist. Und wer darüber lachen will, dem wird keine Antwort helfen, denke ich mir.
Nun ist Zeit, an den heute zu denken.
Ich rufe meine Familienmitglieder nacheinander an. Zuerst meinen Bruder. Er geht nicht ans Handy. Vielleicht ist er unterwegs. Dann meine Schwägerin. Ich schicke ihr auch Fotos von meinem neuen Mantel. Sie sagt, dass in der Nähe Raketensplitter gefallen sind und dass es ganz laut war, lauter als früher. Die Fenster seien aber intakt.
Ein weiterer Anruf geht an meinen Vater. Mein Papa spricht die heutigen Raketeneinschläge nur kurz an und sagt, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Er redet sehr viel und sehr schnell, was für ihn überhaupt nicht typisch ist. Meine Mama kann ich nicht erreichen.
Ein bisschen später schickt sie mir ein paar Nachrichten. In einer benachbarten Straße sind drei Häuser von Raketen getroffen. Ob das Splitter waren oder ein gezielter Schlag, wisse sie nicht genau. Es gibt auch ein paar Bilder und ein Video.
Noch 48 Stunden werde eine Sperrstunde bestehen, sodass sie nicht ausreisen können. Ich weiß auch, dass sie es immer noch nicht wollen. Auch nachdem sie den Kriegsrauch über dem 150 Meter entfernten Nachbarhaus gesehen haben.
Ich sitze auf einem Spielplatz neben meinem Haus in Lemberg und überlege, wie es weitergehen soll. Neben der Bank hat ein Kind mit kleinem berührenden Fehler "Save Ukrein" auf dem Asphalt mit Kreide gekritzelt. Wahrscheinlich mit der Absicht, dass jemand die Schrift von oben liest. Ob der Appell an Gott gehen soll oder ein Militärpilot, ist unklar.


Daryna Melashenko, 26 Jahre, ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.