Wer das seltene Glück hat, 50 Euro zu besitzen, kann selbige seit dieser Woche in den brandneuen 50-Euro-Schein umtauschen. Dieser ist nach Abzug aller Steuern zwar auch nur 25 Euro wert, lässt aber mit einer optischen Neuerung aufhorchen bzw. -blicken. Er hat nämlich ein Porträtfenster.
Das kann man sich als eine Art
Marterl vorstellen, in dem ein Bild von Europa zu sehen ist. Nein, nicht von ganz Europa, sondern von der mythologischen Figur. Also von jener Europa, die Zeus nach Europa entführte.
Der Göttervater tat dies bekanntlich aus rein lüsternen Erwägungen und in Gestalt eines weißen Stiers, was heute als subtile Anspielung auf die Finanz gebarung der EZB gewertet wird. Zeus hatte auch andere Verkleidungen auf Lager, mit der er die antike Damenwelt verwirrte, etwa als Schwan, Nebel oder
(besonders effektvoll!) Goldregen.
Warum wurde dann ausgerechnet der Stier-Trick so berühmt? Und warum wurde Europa zur Namensgeberin unseres Kontinents und nicht eine der anderen Geliebten des Zeus? Warum nicht Io, Leda, Maia oder Semele? Oder Alkmene, Kallisto oder Antiope?
Dann würden wir jetzt in der Ionischen, Alkmenischen, Maianischen oder Kallistoischen Union (kurz IU, AU, MU oder KU) leben. Überall wäre "Ja zu Io" oder "Gemeinsames Leda" plakatiert. In Sonntagsreden würde gemahnt, Maia müsse endlich erwachsen werden.
In Nachrufen bekäme jeder nachgerufen, er sei ein "Großer Ionier" gewesen. Österreichs Fußballnationalmannschaft würde versuchen, sich für die Endrunde der Antiopemeisterschaft zu qualifizieren. Und Kritiker würden statt einer Euro- eine Semesklerose diagnostizieren. Das hätte alles sein können, wenn sich Europa nicht vorgedrängt hätte.
Dabei wäre Semele die ideale Namensgeberin für unseren Kontinent gewesen. Für sie spricht allein, dass sie Georg Friedrich Händel zu einem großen Oratorium inspiriert hat, Europa nicht. Das liegt an der ungleich dramatischeren Geschichte der Semele:
Zeus näherte sich ihr in einer besonders schrägen Verkleidung, nämlich als Sterblicher. Als Semele schwanger wird, rächt sich Zeus' eifersüchtige Gattin Hera an ihr, indem sie ihr zuflüstert, es sei gar nicht der göttliche Zeus gewesen, der sie beglückt habe, sondern irgendein dahergelaufener Mensch.
Diese Nachricht macht Semele verständlicherweise schaudern. Sie bestürmt Zeus, ihre Zweifel auszuräumen und sich ihr in seiner göttlichen Gestalt zu zeigen. Seinen Einwand, dass diesen Anblick kein Mensch überlebe, lässt sie nicht gelten. So kommt es, wie es kommen muss: Zeus offenbart sich ihr als Zeus und angesichts seiner strahlenden Göttergestalt (als heutiger Europäer muss man sich das ungefähr als Mischung von Jean-Claude Juncker und Martin Schulz vorstellen) verglüht Semele in völliger Verzückung.
Ihr ungeborenes Kind wird jedoch gerettet, indem Zeus es sich in den eigenen Schenkel einnäht, austrägt und dann in Form einer Schenkelgeburt zur Welt bringt. Diese Fähigkeit, aus Krisen zu lernen und neue, innovative Lösungen zu finden, weist bereits voraus auf das heutige gemeinsame Semele.
Das schenkelgeborene Kind bekommt den Namen Dionysos und wird zum Gott des Weins und des Wahnsinns. In der ganzen Antike wird er dadurch verehrt, dass seine Anhänger sturzbetrunken und unter Vorantragung eines Fichtenzweigs durch die Gegend ziehen. Dieser Brauch hat sich bis ins heutige Semele erhalten, indem bei Heurigen ein grüner Buschen vor dem Tor hängt.
An all das erinnert der neue 50-Euro-Schein wie gesagt nicht, sondern an die vergleichsweise langweilige Geschichte der aus dem Morgenland entführten Europa. Quasi Euroxit. Bei einem 50-Seme-Schein wäre alles ganz anders.

