Erst einmal möchte ich mich bei dir bedanken, denn ohne dich hätte ich, Enkelkind von Holz- und Bauernknechten, wohl nie die Möglichkeit gehabt, eine höhere Schule zu besuchen und zu studieren - du hast die Politik und das Leben des letzten Jahrhunderts im Sinne des sozialen Ausgleichs und Aufstiegs entscheidend mitgeprägt.
Doch dann, irgendwann in den Neunzigern, sind dir deine Wurzeln ausgetrocknet. Gerade damals wärst du als Gegenpol zum Neoliberalismus, der mit seiner als Freiheit getarnten Banken- und Konzernherrschaft Europa überrollte und nach und nach die Kontrolle übernahm, ungemein wichtig gewesen. Aber statt gemeinsam mit anderen sozial gesinnten Kräften ein Gegenkonzept zu etablieren, hast du allzu oft den Musterschüler gespielt - Stichwort: Genosse der Bosse. Gleichzeitig hast du es dir in den Institutionen gemütlich gemacht und dich mit dem Boulevard auf ein Packl gehaut. Das ging so lange gut, solange die Wirtschaft brummte. Dann aber, als eine Krise nach der anderen heranrollte, wurde klar, dass du mittlerweile den Kontakt zu deiner ursprünglichen Klientel, den Arbeitern und sozial Schwachen verloren hattest und diese sich inzwischen von den Rechten (!) besser vertreten fühlen. Und statt nun endlich Profil zu zeigen, lavierst du wieder nur herum.
Für dich geht es nun ums Eingemachte, ein paar elegante Rochaden an der Spitze werden da bei Weitem nicht reichen - was du brauchst, ist eine schonungslose inhaltliche Grundsatzdiskussion und eine Neuausrichtung. Ich hoffe, die gelingt dir, denn dieses Land und ganz Europa bräuchten dringend das, was du einmal warst: ein unbestechliches soziales Gewissen und ein starker Gegenpol zu Neoliberalismus und Nationalismus.
