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Sichtbare und unsichtbare Mauern

Gedanken zu Europa, 25 Jahre nach dem Berliner Mauerfall.

Am vergangenen Wochenende haben wir in beeindruckenden Bildern aus Deutschland gesehen, wie vor 25 Jahren der Freiheitswille von Menschen ein Regime mit friedlichen Mitteln in die Knie zwang. Tausende standen damals auf jener Mauer, die zum Symbol für die Teilung Europas in Ost und West geworden war, blickten hoffnungsfroh in die Zukunft und ließen einen Staat hinter sich, der sie jahrzehntelang ideologisch und physisch eingepfercht hatte. Das war ohne Zweifel ein Jahrhundertereignis.

Aber wie hat sich Europa in diesen 25 Jahren entwickelt, wenn wir einen kritischen Blick darauf werfen? Einerseits ist es zusammengewachsen und zu einem riesigen, florierenden Markt geworden. Andererseits driftet es aber auch ständig auseinander, teilt sich nicht nur mehr in Ost und West, sondern in einen wirtschaftlich starken Norden und einen schwachen Süden, in immer reicher werdende Reiche und immer ärmer werdende Arme und auch nach Generationen in Gewinner und Verlierer. Jugendarbeitslosenquoten von bis zu 70 Prozent sind purer Sprengstoff für Demokratie, sozialen Frieden und Zusammenhalt. Die Stärke (West-)Europas der 80er-Jahre war vor allem sein ausgleichender Weg der sozialen Marktwirtschaft, seit dem Mauerfall ist die soziale Komponente aber ständig abgebaut und der Markt zunehmend entfesselt worden - als Ergebnis ziehen sich heute neue, unsichtbare Mauern durch Europa.

Viele Menschen sind deshalb vom Projekt Europa enttäuscht und wenden sich dem Nationalismus zu. Wenn Europa es nicht schafft, die soziale Komponente spürbar aufzuwerten und wieder zu einer tragenden Säule zu machen, wird es zerfallen und seine Teile, vor allem die kleinen, werden zu Spielbällen der Weltmächte werden.