Wir wundern uns, dass 80 Prozent der russischen Bevölkerung überzeugt sind, dass in Kiew die Faschisten die Macht übernommen hätten, Russland von Feinden umgeben sei und an allem Übel in der Welt ohnehin "die Amerikaner" Schuld trügen.
Das Ende der Sowjetunion ist mittlerweile knapp 25 Jahre her. Möglicherweise hat man bisher noch nicht die Zeit gefunden, auch in den Köpfen mit all dem Unsinn aufzuräumen, der den Menschen im Lauf von 70 Jahren eingebläut worden ist.
Alte Denk- und Verhaltensmuster sind hartnäckig, sie lassen sich nur schwer ausrotten. Gerade deshalb muss man sich ihnen aber stellen, und zwar immer wieder, jeden Tag, überall auf der Welt.
In Wladimir Putins Russland allerdings besteht überhaupt kein Interesse daran, mit den alten Mustern endgültig aufzuräumen. Ganz im Gegenteil. Der Präsident, der bekanntlich das Ende der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hat, hat jedes Interesse daran, die Menschen in jenem Status zu halten, in dem sie vor dem Ende der Sowjetunion waren. In jenem Gefühl also, von der ganzen Welt missverstanden und deshalb nicht geliebt zu werden. Weil es einfacher ist, ein großes Land auf diese Art zu regieren; weil der Präsident selbst offenbar nicht in der Lage ist, sich eine andere Denkungsart auch nur vorzustellen.
In einer Mischung aus Drohungen und Versprechungen wird von der derzeitigen russischen politischen Elite auf diese Weise der Eindruck geschaffen, man sei sich selbst genug, man brauche den Rest der Welt nicht, der ohnehin nur neidisch auf "uns Russen" schaue, und man müsse sich von den zwielichtigen "sogenannten Demokraten" überhaupt gar nichts sagen lassen.
Der Krieg in der Ukraine? Ein Werk der bösen Faschisten in Kiew! Die Wirtschaftskrise in Russland selbst? Schuld der bösen westlichen Sanktionen. Man will uns in die Knie zwingen, aber wir lassen das nicht zu und erklären lieber jeden, der nicht für uns ist, zum ausländischen Agenten.
Das alles kennen die Älteren unter Russlands Bewohnern nur allzu gut. Wer die Sowjetunion noch erlebt hat, findet sich in dieser neuen Schwarz-Weiß-Welt sogleich zurecht. Und wer zu jung ist, bekommt diese Form des einfachen Denkens von den Älteren vermittelt. Weil bisher niemand daran gedacht hat, dass man auch die Köpfe befreien muss. Befreien von dem Denken als Untertanen und als unmündige Bürger, die froh sind, wenn ihnen ein Übervater im Kreml sagt, was sie zu tun haben. Genau dieses Durchlüften der Köpfe hat aber in Russland nach dem Ende der Sowjetunion nicht stattgefunden. Es muss aber dringend stattfinden, wenn sich das Land nicht wieder für Jahrzehnte in eine Art Diktatur zurückziehen soll.
Wobei zu sagen ist, dass neuerdings auch das demokratische Europa gut daran täte, einmal gründlich mit jenem "alten Denken" aufzuräumen, das auch hier immer noch in viel zu vielen Köpfen vorhanden ist.