Das Gesundheitssystem in Russland war schon zu Sowjetzeiten nicht besonders gut oder effizient. Im Grunde konnte man kaum von einem System sprechen. Wer medizinische Hilfe brauchte, war auf sich und die eigenen finanziellen Mittel angewiesen. Es war üblich, bei schwereren Krankheiten auf Hilfe aus dem Westen zu setzen. Viele Medikamente wurden auf allen möglichen Wegen in die Sowjetunion gebracht, weil es sie hier einfach nicht gab.
Nach dem Ende des Imperiums änderte sich einiges. Vor allem die Versorgung mit Medikamenten wurde besser, sofern man das nötige Geld besaß und besitzt. Das Gleiche gilt für die Versorgung in den Spitälern, wo nach wie vor arge Zustände herrschen: Das beginnt bei durchgelegenen Betten und endet mit der unzureichenden Pflege und Verpflegung. Dabei gab es und gibt es in Russland hervorragende Ärzte, aber das System insgesamt ist, wie ein russischer Freund stets betont, "nicht für Menschen gemacht". Das alles ist schlimm genug. Jetzt aber, da die finanziellen Mittel des Staates dank Krim-Annexion, Krieg im Donbass und fallendem Ölpreis immer weniger werden, scheint sich das ohnehin dünne soziale Netz in Russland endgültig aufzulösen. Vor wenigen Tagen gingen Krankenschwestern und Ärzte auf die Straße. Die Staatsführung hatte beschlossen, mehrere Kliniken zu schließen und Personal zu entlassen. Die Demonstranten waren wütend - und von der Euphorie der "Die Krim gehört uns"-Schreier war nichts zu spüren. Dies, obschon ein Teil der Demonstrierenden zuvor durchaus der These von den bösen Faschisten in der Ukraine geglaubt hatte.
Die Vorgänge im Gesundheitswesen sind nur ein Symptom dafür, wie es um Russland insgesamt bestellt ist. Der Staat mischt sich ein, aber nicht zugunsten der Bürger, sondern gegen diese. Die Menschen haben sich den Interessen einer kleinen Machtelite zu beugen. Wer das nicht tut, wird so unter Druck gesetzt, dass ihm kaum Aktionsradius bleibt. Diese Machtelite spricht stets von den Interessen aller, meint aber damit nur ihre ureigensten. Die Menschen in Russland haben es aber nicht verdient, dass ein paar Macht- und Geldhungrige ihr Leben bestimmen und ruinieren.
Viele Menschen sehen das auch. Was sie zurzeit nicht sehen, ist eine Alternative. Die alte Repressionsmaschinerie funktioniert immer noch so wie die alte Propaganda. Aber früher oder später muss das Lügengebäude, das die derzeit Mächtigen Russlands in den vergangenen Monaten aufgebaut haben, zusammenbrechen. Man kann nur hoffen, dass dies unblutig geschieht.