Mariupol ist eine Hafenstadt und ein wichtiges ukrainisches Industriezentrum. Zwei gewichtige Gründe, um die Stadt kontrollieren zu wollen. Und die Gelegenheit für eine neue Offensive schien den Herren im Kreml gerade jetzt offenbar mehr als günstig. Die ganze Welt ist noch im Schock nach den furchtbaren Anschlägen in Paris, die Ukraine ist - wie so oft in den vergangenen Jahren - wieder einmal in den Hintergrund getreten. Also hat man den Gefolgsleuten in der Ostukraine offenbar den Angriffsbefehl gegeben, den diese auch prompt ausführen.
Mit der Eroberung Mariupols würden der Kreml und seine Vollstrecker in der Ostukraine gleich mehrere Fliegen mit einem Schlag treffen. Man könnte eine Art Korridor auf die Krim eröffnen und den Einflussbereich der Separatisten ausweiten. Gleichzeitig wäre die Eroberung der Industriestadt ein weiterer schwerer Schlag für die ukrainische Wirtschaft. Und man könnte so einer tatsächlichen Teilung der Ukraine näher kommen.
Aus genau diesen Gründen aber wird sich die Ukraine gegen die Eroberung der kleinen Stadt am Meer zur Wehr setzen. Das heißt: blutige Kämpfe, hohe Opferzahlen und die Zerstörung einer weiteren ukrainischen Stadt. Moskau nimmt das in Kauf - nach dem Motto, man sei ja nicht direkt an diesem Konflikt beteiligt. Damit scheint man im Kreml auch andere beunruhigende Berichte aus der Krisenregion in der Ostukraine wegzuschieben. Zum Beispiel den Bericht, der selbsternannte Bürgermeister der besetzten Stadt Donezk habe seine "Truppen" in einem Erlass aufgefordert, "keine Gefangenen zu machen". Eine allen internationalen Konventionen und dem Völkerrecht widersprechende Erklärung, zu der Moskau schweigt.
Bleibt die Frage, was gegen diese neuerliche Eskalation des Konflikts in der Ukraine getan werden könnte. In diesem Moment möglicherweise nicht viel. Sicher ist nur, dass gerade diese Entwicklung deutlich macht, wie wichtig eine einheitliche europäische Politik gegenüber Wladimir Putin und seinen Erfüllungsgehilfen in der Ostukraine ist. Europa muss mit einer Stimme sprechen - und deutlich machen, dass man nicht einfach zuschaut, wie Moskau einen Nachbarstaat einfach in den Ruin treibt. Ja, die Aufrechterhaltung des Dialogs mit Russland ist notwendig. Dies vor allem aber, um ganz deutlich zu machen, dass Russland eine Grenze überschritten hat und sich damit außerhalb der Gemeinschaft jener Staaten stellt, die wenigstens versuchen, nach demokratischen Maßstäben zu leben.