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Die Macht und die Fiktion vom vollkommenen Markt

Richard Wiens

Gleich zwei Nobelpreise gingen heuer nach Frankreich, für Literatur und Ökonomie, und beide Male waren die Preisträger und mit ihnen die Öffentlichkeit überrascht. Jetzt gilt es, den Autor Patrick Modiano und den Ökonomen Jean Tirole auch außerhalb Frankreichs als zwei ganz Große ihres Fachs zu entdecken.

Tiroles Unbekanntheit steht freilich im umgekehrten Verhältnis zu seinem Einfluss auf die Wirtschaftspolitik. Lange hatten sich Ökonomen in die Fiktion geflüchtet, es gebe auf dem Markt entweder nur Monopole oder den vollkommenen Wettbewerb.

Damit hat Tirole radikal gebrochen. Denn der viel häufigere Fall ist, dass sich einige wenige Unternehmen den Markt aufteilen und ihn daher dominieren können. Lässt man sie ihre Macht ungehindert ausspielen, können sie Preise beliebig festsetzen, die Konsumenten haben das Nachsehen.

Um zu verhindern, dass die Zahl der Konkurrenten sinkt, griff man in der Regulierung meist zum Holzhammer und verbot Fusionen. Jean Tirole erweiterte das Instrumentarium der Wirtschaftspolitik um feinere Werkzeuge.

Gemeinsam mit Kollegen zeigte er, dass es ab und zu zum Vorteil der Gesellschaft sein kann, wenn man Unternehmen kooperieren lässt. Ein Fall ist das Bündeln von Patenten, die für manche Produzenten damit erst erschwinglich werden und sie in die Lage versetzen, ihre Produkte überhaupt auf den Markt zu bringen. Vom größeren Angebot profitierten die Kunden. Anhand anderer liberalisierter Branchen konnte Tirole zeigen, dass Preisobergrenzen für Ex-Monopolisten kontraproduktiv sind. Hinter diesen und anderen Empfehlungen steht viel Mathematik. Trotzdem widerlegt Tirole den pauschalen Vorwurf an die Wissenschaft, sie denke im Elfenbeinturm über in der Welt gar nicht existente Probleme nach, in eindrucksvoller Weise als falsch.

Der Franzose hat der Politik das methodische Rüstzeug an die Hand gegeben, um Marktmacht so zu bändigen, dass es der Volkswirtschaft insgesamt zum Vorteil gereicht. Und er hat gezeigt, dass es die oft zitierte angebliche Ohnmacht der Politik gegenüber den entfesselten Märkten nur dann gibt, wenn Politiker nicht willens sind, wenige, aber die richtigen Regeln zu setzen und gegen Widerstand daran festzuhalten.

Über die Regulierung machte sich vor mehr als 200 Jahren schon Adam Smith Gedanken, der für freie, aber keineswegs völlig ungezügelte Märkte eintrat. Im "Wohlstand der Nationen" kann man lesen, dass Regulierungen zwar die natürliche Freiheit Einzelner verletzten, aber manchmal unumgänglich seien, um die gesamte Gesellschaft vor Schaden zu bewahren, konkret nennt er dabei auch die Banken.

Smith hätte den Nobelpreis für Tirole daher freudig begrüßt. Zum einen, weil er ein großer Verehrer der Grande Nation war. Vor allem aber, weil er an einen Ökonomen geht, der den freien Markt durch kluge Regulierung vor unnötigen Eingriffen der Politik, aber auch vor sich selbst schützen will.