Gedichte zwingen einem ihren eigenen Rhythmus auf. Ein Gedichtband von knapp hundert Seiten nimmt nicht weniger Zeit in Anspruch als ein großer Familienroman. Es kommt auf jedes Wort an. Keine Lebensweisheiten, keine einfachen Botschaften, kein flotter Sinn lässt sich daraus ziehen. Gedichte machen eine Welt begehbar, deren Boden so brüchig ist, dass wir ständig einzubrechen drohen. An den einzelnen Wort-Haltegriffen arbeiten wir uns entlang und entdecken in einem einzigen Gedicht eine Vielfalt, die das Gegengift zur oberflächlichen Alltagssprache bedeutet. Dabei entdecken wir unterschiedlichen Identitäten, dass wir der Vielfalt menschlichen Sprachdenkens gewiss werden. Brecht und Mayröcker, Hölderlin und Bachmann - sie sind nicht zu vergleichen miteinander, weil jeder die Welt so sieht, wie sonst keiner.
Manchmal geht es anders. Das kürzeste Liebesgedicht stammt von Friedrich Achleitner:
"Mari/do/wari."
