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Weihnachtshirten im Bahnhofscafé

Ronald Escher


Da sitzen zwei weihnachtlich gestimmte Hirten im leeren Bahnhofscafé und warten auf die Ankunft des Sohnes. Der sollte eigentlich schon da sein, aber der Zug wird sich um fünf Minuten verspäten - "aus betrieblichen Gründen". Vater und Onkel sitzen nach 15 Minuten noch immer da - aus betrieblichen Gründen. Wie die Hirten im Café - äh, in der Krippe - sind sie bestellt, aber auch nach 22 Minuten ist noch kein Sohn zum Abholen da. Aus betrieblichen Gründen.

Wie definiert man "fad"? Zum Beispiel über sinnloses Auswendiglernen von Gedichten in der Schulzeit. "Habt Ihr auch ,John Maynard‘ lernen müssen?" - "Na klar! ,Die Schwalbe fliegt über den Eriesee . . .‘" - "Den ,Erlkönig‘ auch?" - "Leider. ,Erreicht mit Müh und Not den Hof/In seinen Armen das Kind war doof!‘" - "Hoppla! Und die Ibyche des Kranikus?" - "Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!" - Die Stimmung steigt derart an, dass plötzlich nach 34 Minuten Verspätung der Sohn dasteht, und fast hätte es keiner gemerkt. Die beiden Hirten beschließen, sich ab jetzt jeden 23. Dezember abends im Wiener Café zu treffen, auf Zugverspätungen bei den ÖBB zu hoffen und Gedichte aufzusagen.