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Die Angst, dass das Heilige sich in nichts auflöst

Religionen, die sich von einer heiligen Schrift herleiten, müssen sich in jeder Epoche neu damit abmühen.

Josef Bruckmoser

Die Frage ist logisch und wird genau so gestellt: Wenn nicht alles im Koran heilig ist, wenn nicht alles das verlässliche, unveränderbare Wort Gottes ist, was ist dann der menschliche und was der göttliche Anteil? Und wer entscheidet das, wer stellt die Kriterien auf?

Die Frage, wer die Deutungshoheit hat über die heilige Schrift, ist für Judentum, Christentum und Islam eine entscheidende. In der katholischen Kirche ist diese Frage im 20. Jahrhundert virulent geworden. Bibel- und Literaturwissenschafter haben mit der sogenannten historisch-kritischen Methode einzelne Texte auf ihre Herkunft durchleuchtet. Zusammenhänge mit nichtchristlichen Texten wurden aufgezeigt, Übereinstimmungen und Abhängigkeiten, Widersprüche und Differenzen.

Ein negativer Höhepunkt waren die Sanktionen gegen den katholischen Theologen Eugen Drewermann. 1991 wurde ihm die kirchliche Lehrbefugnis entzogen, 1992 Predigterlaubnis und Priesteramt. Moralfragen und Bibelauslegung hatten den Ausschlag gegeben.

Es ist also nicht lange her, dass die Frage, wie wörtlich oder symbolisch die Bibel zu verstehen sei, schwere Konflikte auslöste. Bis heute gibt es in den USA Millionen meist evangelikale Christen, die gegen die Evolutionstheorie und für die Schöpfungserzählung der Bibel an den Schulen kämpfen.

Der Islam steht mit seinem inneren Konflikt um die "richtige" Auslegung des Koran nicht allein da. Jene, die wörtlich an den Texten festhalten, sind von einer großen Angst getrieben: Dass am Ende niemand mehr wisse, was in dem heiligen Buch nun "Dichtung" und was "Wahrheit" sei.

Der islamische Theologe Mouchanad Khorchide sagt, "die Lebenswirklichkeit ist der Prüfstein". Die Frage also, ob ein bestimmtes Verständnis des Koran den Menschen leben hilft oder noch mehr Tote bedeutet. In der Bibel steht ein ähnliches Kriterium: "An den Früchten werdet ihr sie erkennen."