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Ein Skandal, dieses soziale Europa

Die Finanzkrise zerrt am europäischen Modell der sozial abgefederten Marktwirtschaft.

Josef Bruckmoser


Am deutlichsten hat es unlängst ein Kommentator im deutschen "Handelsblatt" formuliert. Das sei nun wirklich nicht einsichtig, ja es sei ein Skandal, dass 80 Prozent aller Sozialleistungen weltweit in Europa aufgebracht würden. Europa, der Sozial-Junkie, der nicht mehr in die globale Ideologie der schrankenlosen Wirtschaft passt. In dieser Sichtweise sind Sozialleistungen widersinnig. Sie werden bestenfalls als notwendiges Übel hingenommen, um Aufstände verarmter Massen zu verhindern.

Keine Frage: Der europäische Sozialstaat ist durch die Globalisierung im Allgemeinen und die Finanz- und Wirtschaftskrise im Besonderen unter Druck geraten. In den konkreten Auseinandersetzungen wird aber allzu gern zu plakativen Beispielen gegriffen - sei es die berüchtigte Pension für die längst verstorbene Oma in Griechenland oder das Wahlversprechen einer Partei in Deutschland, das Rentenalter von 65 auf 63 herunterzusetzen - ein Populismus wider besseres Wissen. Denn das ist sicher, dass ein so niedriges Pensionsalter nicht mehr drin ist.

Es gilt Maß zu halten, und das sehen die Menschen auch ein. Was sie nicht einsehen, ist, wenn die Karten nicht offen auf den Tisch gelegt und Äpfel mit Birnen verglichen werden. Zum Beispiel in der Debatte um die Steuerreform in Österreich. Da wird zwar wahrheitsgemäß eingestanden, dass die Verteilung der Vermögen in Österreich extrem ungleich sei. Aber gleichzeitig wird dieser Malus mit dem scheinbaren Bonus aufgewogen, dass durch staatliche Transfer- und Sozialleistungen die Einkommensgerechtigkeit in Österreich hoch sei. Nur hat beides miteinander nichts zu tun.

Bleibt für Europas Sozialstaaten ein Trost: In der EU gilt Deutschland als die Wirtschaftslokomotive. Ausgerechnet jenes Land, das die "soziale Marktwirtschaft" erfunden hat. Ganz so desaströs kann es also für die Wirtschaft nicht sein, wenn ein Staat sich halbwegs (trotz Hartz IV) angemessene Sozialstandards leistet. Es muss ja nicht die Rente mit 63 sein.