SN.AT / Kolumne / Zeitzeichen / Zeitzeichen

Europa hat keine Feinde mehr, nur gemeinsame Opfer

Die diesjährigen Salzburger Hochschulwochen führen in idealer Weise das Thema der Festspiele weiter.

Josef Bruckmoser

Die Europäische Union als großes Friedensprojekt - ist das ein Mythos aus der Vergangenheit oder eine Erzählung für die Zukunft?

In seiner Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen hat der Historiker Christopher Clark am Sonntag dieses "transnationale Gebäude" als weltweites Modell für die friedliche Konfliktlösung bezeichnet. Auch zumindest, neben seiner Warnung, dass der Frieden im Herzen Europas im Jahr 2014 ebenso wenig selbstverständlich sei wie vor 100 Jahren.

Die Salzburger Hochschulwochen, die am Montag in der Aula der Universität begonnen haben, führen diesen Festspielauftakt in historischer, kulturgeschichtlicher, philosophischer und theologischer Perspektive weiter. "Europa - Entgrenzungen" heißt das Thema, und schon in seiner Eröffnungsvorlesung schlug Knut Wenzel, Fundamentaltheologe an der Goethe-Universität Frankfurt, dabei auch Brücken zu Kunst und Kultur. Wenzel ging vom Subjekt aus, von der Selbstermächtigung jedes Einzelnen, sein Leben so zu leben, wie er es als gutes Leben ansehen möchte. In seiner 1938 uraufgeführten Oper "Daphne" habe Richard Strauss diesen Anspruch des Menschen thematisiert, seine Identität selbst zu bestimmen. Daphne habe sich der Überwältigungsmacht der Liebe ebenso verweigert wie der Zwangsvergemeinschaftung durch ein dionysisches Fest.

Aber dieses Projekt der Moderne - die Emanzipation des Subjekts von Herkunft, Traditionen, gesellschaftlichen Zwängen - könne auf keine strahlende Bilanz verweisen, sagte Wenzel. Die Menschenrechte seien aus der Gewaltgeschichte Europas hervorgegangen. Aus dem Entsetzen darüber müsse Europa jetzt lernen, dass es keinen Feind mehr gebe, auf den man die Schuld abschieben könne. Es gebe nicht mehr die "Opfer der Feinde" und "unsere Opfer", sondern nur mehr gemeinsame Opfer.

Keine Kriegspartei in der Ukraine kann die Toten von Flug MH17 als "unsere Opfer" geltend machen. Die 298 Menschen, die an dem Konflikt völlig unbeteiligt waren, sind gemeinsame Opfer der Gewaltgeschichte Europas.