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Wie ganz am Ende ein Licht aufgeht

Nicht alle katholischen Begriffe, die alt klingen, sind es auch. Kardinal Reinhard Marx zeigte das am Fegefeuer.

Josef Bruckmoser

Wohl kein Mensch wird ohne Weiteres von sich behaupten, dass er vollkommen sei. Oder dass er zumindest alle Talente, die von Kindesbeinen ihn ihm angelegt waren, zu ihrer vollen Wirkung gebracht hätte.

An diesem Gedanken macht der Münchener Kardinal Reinhard Marx seine Sicht vom "Fegefeuer" fest - jenem uralten Begriff aus dem römisch-katholischen Katechismus, der mit lodernden Flammen rund um "die armen Seelen im Fegefeuer" so verkitscht worden ist, dass niemand mehr etwas damit anfangen kann.

In einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" meinte Marx, "dass wir in der Stunde unseres Todes womöglich noch nicht am Ende der Entfaltung unserer Möglichkeiten angelangt sind". Will heißen: Bei genauerer Betrachtung und mit geöffneten Augen könnte dem Menschen am Ende seines Lebens noch einmal ein ganz neues Licht aufgehen: So bin ich gewesen - und das hätte aus mir werden können. "Diese Diskrepanz verursacht zunächst Schmerz, aber sie wird letztlich geheilt von Gott", meint Marx.

Das klingt freilich schon wieder nach höherer Theologie, die wir automatisch mit "unverständlich" assoziieren. Aber wer will, kann dabei schlicht und einfach an Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" denken. Dort ist es auch so, dass dem reichen Mann am Ende seines Lebens etwas einleuchtet. Dass er mit scharfem Blick erkennt, wie sein Leben gelaufen ist - und wie es hätte laufen können.

Dieser ungetrübte Blick auf das eigene Tun und Lassen kann wehtun. Aber er wird, bei Hugo von Hofmannsthal, aufgehoben durch eine andere, höhere Gerechtigkeit. Eine, die über die Begrenztheit alles Menschlichen hinausgeht. Diese Hoffnung haben Hugo von Hofmannsthal und Kardinal Marx gemeinsam.