Man stelle sich einmal vor: Ein US-Präsident erklärt den russischen/chinesischen/nordkoreanischen (Nichtzutreffendes bitte streichen) Kinos den Krieg und droht mit Terroranschlägen, falls in diesen Theatern ein Film gezeigt werde, der eine Verschwörung zur Ermordung des Präsidenten Amerikas zum Inhalt hat. Die ganze Welt, nicht bloß die russische/chinesische/nordkoreanische, sondern wirklich die ganze Welt, würde die USA als imperialistisches Monstrum, als Kriegstreiber und als Land des Terrors geißeln. Die Regierungen der betroffenen Länder würden die Lichtspieltheater zwingen, den Film zu zeigen, und die Bürger auffordern, den Film anzuschauen - allein schon, um den USA eins auszuwischen.
Selbstverständlich ist nichts dergleichen geschehen und es wird auch nicht geschehen. Aber umgekehrt ist es passiert. Ein Film, der sich in Slapstick-Manier über den US-Geheimdienst CIA ebenso lustig macht wie über den bizarren Tyrannen von Nordkorea, wird im Westen nirgendwo gezeigt, weil eine Gruppe von Cyberterroristen - vermutlich in Diensten ebenjenes bizarren Diktators - mit Terror gegen Kinos droht. Und was tun die Filmverleiher? Sie geben nach, sie weichen der Gewalt, sie kuschen vor einem Regime, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass es sein Volk darben lässt, während es wahnwitzige Versuche mit Atomraketen finanziert und seine Bonzen sichtlich leben wie die Made im Speck.
Dieses Zurückweichen hat gleich mehrfach fatale Folgen. Zum einen lädt es jeden Terroristen ein, mit wüsten Drohungen zivilisierte Länder zu erpressen. Wenn schon die amerikanische Filmindustrie in die Knie zu zwingen ist, warum sollten diese Leute nicht einmal einen anderen Wirtschaftszweig oder ein anderes Land oder gleich die ganze zivilisierte Welt attackieren? Terroristen lernen schnell, vor allem, wenn das Opfer sich gleich unterwirft.
Der Nordkoreaner Kim Jong Un ist ja nicht der einzige Politiker, der Kritik als Majestätsbeleidigung betrachtet. In demokratischen Staaten jammert zwar so mancher Politiker, und wenn's ganz schlimm kommt, verklagt einer einmal ein Medium. Andere, weniger demokratische Herrscher sperren Kritiker einfach ein, wie zum Beispiel Russlands Präsident Wladimir Putin oder das türkische Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdoğan. Sie wähnen sich in der direkten Nachfolge der Zaren und Paschas früherer Großreiche und agieren entsprechend autokratisch. Auch die in China herrschende Clique macht Kritiker schnell mundtot.
Je bereitwilliger ein Teil der Welt zeigt, dass der terroristische Auftritt Nordkoreas das gewünschte Ergebnis bringt, desto mehr werden Autokraten wie Erdoğan und Putin glauben, sie seien "unberührbar" und stünden über aller Kritik und außerdem über jedem Gesetz.
Der britische Premierminister Neville Chamberlain versuchte vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, die Aufführung von Charlie Chaplins Film "Der große Diktator" in England zu verhindern, um die "Friedenspolitik" gegenüber Nazi-Deutschland nicht zu gefährden. Wir wissen, dass das nicht funktioniert hat. Die Unterwerfung unter das Diktat eines Tyrannen hat sich damals nie bewährt und wird auch niemals positive Ergebnisse bringen.
Bemerkenswert ist auch die hämische Reaktion der europäischen und amerikanischen Hacker-Szene auf den nordkoreanischen Angriff auf Sony und die Filmverleiher. Dass da Menschenrechte verletzt werden, scheint diese Community nicht zu kümmern. Sie betrachten sichtlich die Leistungen von WikiLeaks und Edward Snowden als völlig ausreichend. Es genügt ihnen, dass es gelungen ist, den E-Mail-Verkehr amerikanischer Geheimdienste zu belauschen und zu publizieren. Das war lehrreich für die ganze Welt und hat die USA blamiert.
Es gäbe aber noch ein weiteres reiches Betätigungsfeld, auf dem sich die Hacker, Schnüffler und Wahrer der Informationsfreiheit von eigenen Gnaden austoben könnten. Wie wäre es, wollte man sich einmal mit den russischen Geheimdiensten anlegen? Man könnte zum Beispiel den Informationsfluss zwischen dem Kreml und den angeblich unabhängigen Separatisten auf der Krim und in der Ostukraine belauschen. Man könnte Nordkoreas Verbrechen bloßstellen oder zeigen, wo Kim Jong Un sein Vermögen geparkt hat. Aber vermutlich wäre es für die Hacker tatsächlich viel zu gefährlich, sich mit diesem Tyrannen anzulegen.